Ungklärte Fragen

Als ich gestern im G-Raum saß und einem Gespräch meiner Mitbewohner zuhörte, erinnerte ich mich an eine Zeit während meiner ersten Lehre. Ich lernte Bürokaufmann in der Werksniederlassung einer großen KFZ-Marke und war in der Abteilung zur Rechnungsstellung eingesetzt. Das geschah zum damaligen Zeitpunkt noch via Lochkarten, die KFZ-Mechaniker vermerkten die geleisteten Reparaturen handschriftlich auf Laufzetteln und später wurden zu den verschiedenen Reparaturen die entsprechenden Lochkarten aus großen Karteikästen gezogen, gestapelt und gemeinsam mit der Lochkarte für den entsprechenden Kunden in einen speziellen Drucker gelegt, der dann die Rechnung auswarf. Das Heraussuchen der Lochkarten war eine endlos stupide Tätigkeit und wurde von Hilfskräften und Lehrlingen erledigt, sprich: mir und acht Frauen aller Alters- und Geistesklassen. Der ganze Vorgang war auch von weniger begabten Menschen schnell zu automatisieren und lies viel Geisteskapazität frei, die meist für die Konversation genutzt wurde. Kurz, es wurde ununterbrochen geschwätzt und gelästert.

Lochkarte

Ich war schon damals ein stiller Zeitgenosse und in „der Rechnungsstellung“ konnte ich besonders wenig zum Gespräch beitragen. Weder der Stil noch die Themen der Unterhaltung lagen mir und so blieb ich schweigsam. Was dazu führte, dass sich die Mädels sehr schnell angewöhnten, ihre Gespräche so zu führen, als sei ich nicht anwesend.  Leider erinnere ich keine speziellen Beiträge, die ich hier als Anekdote einfügen könnte, da ist nur das allgemeine Empfinden geblieben, dass da einiges unangemessen war und nicht in die Öffentlichkeit oder die Ohren des Lehrlings gehörte.

Was mich aber immer wieder verblüffte, war die Zwanglosigkeit (und fast schon Zwangsläufigkeit) mit der über die jeweils gerade abwesende Kollegin geredet wurde. Wobei „geredet“ hier stark beschönigend verwendet wird und abwertende Äußerungen in klarer Sprache einschließt. Kurz: unglaublich, wie die übereinander hergezogen sind! Die abgebrühteren unter den Kommunikationsgenossen mögen das nicht besonders erstaunlich finden, ich fand das damals – und in Teilen auch noch heute – sehr befremdlich. Besonders eines war mir nicht nachvollziehbar. Jede der anwesenden Damen machte die Erfahrung, dass näherungsweise ausnahmslos über die jeweils abwesende Kollegin gesprochen wurde und konnte daher mit einiger Gewissheit davon ausgehen, dass in ihrer Abwesenheit auch über sie gesprochen wurde. Was in meiner naiven Weltsicht dahin führen sollte, dass jede in etwa so über Abwesende spricht, wie sie über sich selbst gesprochen haben möchte. Sagen wir: mit einem Minimum an Höflichkeit und mitmenschlichem Respekt sowie gelegentlichen Einsprengseln von Verständnis und Anteilnahme. Ich habe niemals auch nur ein Bemühen darum feststellen können.

Was mich zu der bis heute für mich ungeklärten Frage führt, ob die Mädels den von mir nahegelegten Schluss einfach nicht zogen oder ob er ihnen egal war. Und natürlich frage ich mich das nicht nur in Bezug auf die erwähnten Damen, sondern auf meine Mitmenschen ganz allgemein. Der konkrete Anlass für die Erinnerung war die gesprächsweise Benennung eines Dritten als Arschloch. Ist dem Schimpfenden klar, dass er sich mit diesem Ausspruch potentiell zum Arschloch des Beschimpften macht? Falls ja, ist es ihm egal? Weiterführend, ist dem Schimpfenden klar, dass er allen Anwesenden mitteilt, dass er sie im Konfliktfall in ihrer Abwesenheit als Arschloch beschimpfen wird? Falls ja, ist es ihm egal? Letztlich … (muss ich hier auf einen wirklich guten Abschlusssatz verzichten, der das „…, ist es ihm egal“  und das „Kurz: …“ wiederaufgenommen hätte; einfach deswegen, weil ich darin den Beschimpfer als Arschloch beschimpfe; und das will ich nichteinmal für einen guten Abschlusssatz).

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