Das vierte Leben – nennen wir es Midlife-Crisis

Dieser Artikel ist Teil einer autobiografischen Beitragsreihe in Briefform, der dringend empfohlene Übersichtsartikel dazu erklärt, wer F² ist und wie es zu diesen seltsamen „durchgezählten“ Leben kommt.

Hallo F²,

[…] Dass Männer in ihrer Lebensmitte zu allerlei Unvernunft neigen, ist bekannt. Leider mache auch ich da keine Ausnahme. Nebenbei: Ich mache oder bin ich überhaupt sehr selten eine Ausnahme; daran gemessen, dass ich mich in meiner Jugend für etwas sehr Besonderes gehalten habe, bin ich geradezu schmerzlich normal. Einer meiner Therapeuten hat mir mal gesagt, ich solle endlich einsehen, dass ich ein Wald- und Wiesenneurotiker sei. OK, akzeptiert.

Zumindest so bis ins 40. Lebensjahr. Ich arbeitete ehrenamtlich in einen Eine-Welt-Laden und dort gab es den Plan, eine Bücherei in einem renovierten Bauwagen einzurichten. Der Plan wurde fallengelassen als der Bauwagen schon vorhanden war. So kam ich günstig zu einem gebrauchten Bauwagen, der auf einem besetzten Universtätsparkplatz stand. In direkter Nachbarschaft zu den Besetzern eben jenes Parkplatzes. Ich ließ mich näher heranziehen und war fortan ein Teil der Platzbesetzer. Schon vier Wochen später zogen wir in einer Nacht- und Nebelaktion auf ein sehr viel schöneres Universitätsgelände um, auf dem wir die nächsten fünf Jahre ohne jeglichen Räumungsdruck verbrachten.

Mit der Familie ließ sich das natürlich kaum vereinbaren, war allerdings auch nie so gedacht. Zu Beginn meiner Bauwagenzeit schaffte der möglich gewordene räumliche Abstand eine Voraussetzung um überhaupt zusammen zu bleiben. Irgendwann kam sogar ein kleiner Wagen für die Kinder dazu, den sie benutzten, wenn sie bei mir auf dem Platz waren. Nachdem auch die Familie nach Gießen gezogen war, ging es uns erst sehr viel besser miteinander und dann sehr viel schlechter. Auch meine Freundin kriselte lebensmittenmäßig und aushäusig, was letztlich zu meinem „richtigen“ Auszug führte. Bis dahin hatte ich immer noch ein Zimmer, Klamotten und eine Meldeadresse bei der Familie gehabt, das änderte sich nun.

Nicht wirklich zufrieden mit meinem Single-Dasein beschloss ich, meinen „Mit-50-werde-ich-…-Plan“ um 8 Jahre vorzuziehen und mich nach Indien aufzumachen. Und so kam es, dass ich von Oktober 98 bis März 99 in Indien war. Einen Teil der Zeit verbrachte ich in Workcamps, wo ich gemeinsam mit anderen Europäern und Einheimischen an sozialen Projekten mitarbeitete und nebenbei Land und Leute abseits der touristischen Pfade kennenlernen konnte. Ein anderer Teil der Zeit war selbstverständlich eben jenen touristischen Pfaden gewidmet, obwohl ich bestimmt auch da manchmal eher auf den Trampelpfaden unterwegs war, z.B. als ich eine Nacht auf dem Bahnhof von Bombay verbrachte, als einziges Bleichgesicht unter vielen, vielen sehr verarmten braunen Gesichtern. Was eigentlich nur deswegen geht, weil es auch unter ärmsten Verhältnissen so etwas wie Anständigkeit gibt. Ich bin sehr sicher, dass ich in dieser Nacht während meines Schlafes durch die Allianz dieser Anständigen geschützt war.

Vieles war wichtig in diesem halben Jahr, ein herausragendes Einzelerlebnis war aber sicher mein vierwöchiger Aufenthalt in einem Zendo in Südindien. Ein Zendo ist ein Ort, an dem man Zen übt, eine buddhistische Spielart, die sich in Japan entwickelt hat. Rückimportiert von einem jesuitischen Pater ist dieses Zendo, das einzige in ganz Indien, auf dem Gelände eines Jesuiten-Ordens gelegen und trotzdem ganz fern dem christlichen Gedankengut. Das Leben in einem Zendo spannt sich auf zwischen Meditation, Gemeinschaftsdiensten (gärtnern, kochen, saubermachen) und Studienzeiten, gänzlich freie Zeiten sind nur kurz. Wer will kann sich im Tagesablauf ausschließlich an akustischen Signalen orientieren, alles wird mit spezifischen Gongs oder hölzernen Schlaghölzern angezeigt. Wer es genießen kann, einige Zeit vollkommen von eigenem Wollen und Wünschen befreit zu sein (weil es weder Raum noch Zeit dafür gibt), ist an so einem Ort genau richtig. Ich war genau richtig.

Weswegen ich auch in den zwei darauf folgenden Jahren jeweils einen Monat dort verbrachte, gefolgt von nochmals vier Wochen Reisezeit. Indien kannte ich, also gings im zweiten Jahr nach Bangladesch und im dritten nach Sri Lanka. Aus meinem ersten Aufenthalt hatte ich gelernt, dass zwei Monate Reisezeit genügen, um bis unter die Ohren mit neuen Eindrücken abgefüllt zu sein. Und ich wusste, dass es mehr Spaß macht in Gemeinschaft zu reisen. Bangladesch besuchte ich gemeinsam mit einem Freund aus der Workcamp-Organisation, Sri Lanka schon mit meiner neuen Freundin.

Auch meine Freundin hatte ich über die Workcamp-Organisation kennengelernt. Sie hatte mich im Rahmen eines Seminars auf die kulturellen Eigenheiten der asiatischen Länder vorbereitet. Nach meiner Rückkehr aus Indien habe ich genau diese Seminare mitgestaltet, wir wurden erst Teamkollegen und im Sommer nach Bangladesch ein Paar. Es ist schwer, dieser Beziehung gerecht zu werden. Zu den üblichen Geschlechterunterschieden kamen 16 Jahre Altersunterschied und die kulturellen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Interessanterweise gibt es einen Tagebucheintrag aus unserer gemeinsamen Zeit im Zendo, der die ganze Geschichte unserer Beziehung vorweg nimmt und den ich gerade herausgesucht habe.

[Zitat] 15.1.2001
Gestern ein freier Tag, zugleich Pongal – Erntedankfest – hier. Auf einem unserer Wege ins Dorf blieben D. und ich auf einem Felsen sitzen – Aussicht auf herrlichste Berglandschaft und einen „Mittagsmond“ – und sprachen.

So langsam tritt der Altersunterschied in unsere Beziehung auch als Vater-Tochter-Beziehung ein. Sie fühlt sich klein neben mir (was sie objektiv nicht ist!) und hat (wenigstens einmal, am Abend zuvor) das Gefühl, mit ihrem Vater zu schlafen. (…)

Und während ich ihr (…) die Verantwortung für unseren inneren Abstand zuschiebe, verursache ich ihn auf anderen Gebieten ganz genauso.

Nur allzu leicht räume ich in Gesprächen wie dem gestrigen ein, dass unsere Beziehung enden könnte, enden wird. Dass da ein junger, zeugungsfähiger Mann kommen wird, mit dem sie das Kind haben könnte, von dem sie träumt (oder das sie vorschiebt um einen objektiven Grund für unser nicht-zusammen-kommen-können zu haben). [Einschub: Ich habe mich nach der Geburt meiner Tochter sterilisieren lassen] Ich kann diese Zeit leicht ansehen und darüber reden, dass es vielleicht der Sinn unserer Beziehung war, ihre Vater-Tochter-Dinger aufzulösen oder doch wenigstens ertragbarer zu machen. Das tut beim Drüberreden nichtmal weh, obwohl mir schon jetzt davor graut, die Trennung real zu erleben. In meiner Phantasie bleibe ich mit ihr freundschaftlich verbunden.
[Zitatende]

Nachzutragen bleiben eigentlich nur die äußeren Bedingungen unserer Beziehung. Die erste Zeit lebten wir in Gießen auf dem Bauwagenplatz, der inzwischen ein altes Schwimmbad gekauft hatte (ja, wirklich) und eine aufregende Pionier- und Renovierungszeit durchlebte. Das letzte Jahr unserer Beziehung waren wir in Bonn, wo D. Arbeit gefunden hatte und ich eine einjährige Fortbildung zum EMT, Experte für Multimediales Training, bei Siemens machte. Wir lebten in einer netten kleinen netten Wohnung und ich bemühte mich, der Mann zu sein, den sie sich wünschte. Am Ende des Jahres wusste ich, dass ich dieser Mann niemals sein könnte und zog zurück in meinen Wagen.

Es folgte eine schwere Zeit, in der ich mit mir und meiner Umwelt sehr unzufrieden war, mir mal wieder eine Therapie antat, diesmal verhaltenstherapeutisch orientiert, und schließlich wieder in meinem kleinen Leben ankam, dem Leben, in dem ich zwar auf äußerst bescheidenem Niveau lebe, mir dafür aber niemand vorschreiben möchte, wie ich gekleidet zu sein oder mich zu benehmen habe.

An dieser Stelle lasse ich mein viertes Leben enden, vielleicht etwas willkürlich. In der Rückschau war das alles gut so. Wagenleben, Asien, Beziehung zu D., alles sehr belebend. Geschenkt, dass dann alles längst nicht so toll ist, wie man sich das zu Beginn immer vormacht. Ich glaube es gibt so etwas wie ein geistig-emotionales Trägheitsmoment, das uns immer wieder auf unser gewohntes Level einschwingt. Wenn ich, von der depressiven Seite her kommend, etwas als belebend bezeichne, ist das schon ziemlich gut. Es bedeutet, dass es zumindest zu Beginn begeisternd war, anziehend, Wert schien, dafür etwas auf sich zu nehmen, in die Gänge zu kommen. […]

Liebe Grüße
g.

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    • Übersichtsartikel
    • Das erste Leben – Kindheit bis zum 15. Lebensjahr (noch nachzuliefern)
    • Das zweite Leben – 16. bis 30. Lebensjahr, 1973 bis 1985
    • Das dritte Leben – 31. bis 42. Lebensjahr, 1986 bis 1997 und darüber hinaus
    • Das vierte Leben – 43. bis 49. Lebensjahr, 1998 bis 2005, aber auch früher
    • Das fünfte Leben – 50. bis 65. Lebensjahr (noch zu ergänzen)
    • Das sechste Leben – 66. Lebensjahr bis auf weiteres, dieser Blog

 

Das dritte Leben – Beruf und Familie

Dieser Artikel ist Teil einer autobiografischen Beitragsreihe in Briefform, der dringend empfohlene Übersichtsartikel dazu erklärt, wer F² ist und wie es zu diesen seltsamen „durchgezählten“ Leben kommt.

Hallo F²,

[…] Kommen wir also zum dritten Leben, dem Berufs- und Familienleben.
Dein Tipp auf Psychologie [zur Berufswahl] geht durchaus in die richtige Richtung, allerdings hatte ich Sorge vor dem Statistikanteil im Studium und habe deswegen gekniffen (Mathe-Abiturnote 5). Es wurde Sozialpädagogik. Während dem Studium hatte ich verschiedene, meist unqualifizierte Jobs, erwähnenswert ist eigentlich nur die Zeit, während der ich gemeinsam mit Freunden in einem alten Stall auf liebevoll renovierten Vorkriegsmaschinen schreinerte. Schwarz und für wenig Geld, aber mit viel Spaß an der Sache und durchaus respektablen Ergebnissen. Soll heißen: neben einigem anderen bin ich auch ein halber Schreiner.

Anerkennungsjahr als Soz-Päd in einer Einrichtung für drogenabhängige Jugendliche, wo mir meine eigene Suchterfahrung die Anerkennung von Kollegen und Jugendlichen sicherte. Durch Vermittlung meines damaligen Chefs dann die Stelle, die ich als Höhepunkt meiner beruflichen Laufbahn bezeichne, erster Mitarbeiter einer im Aufbau befindlichen Nachsorge-Einrichtung für psychiatrisch kranke Jugendliche. Auf dem Gelände eines ehemaligen Kinderdorfes konnten wir vier nebeneinanderliegende Jugend(holz)häuser beziehen und für unsere Zwecke umbauen. Nebenbei musste die Verwaltung für die Einrichtung aufgebaut und um Pflegesätze verhandelt werden. Meine gesamten bis dahin erlernten Fähigkeiten schienen nur für diese Stelle erworben zu sein. Dank der ungeliebten Bürokaufmannslehre konnte ich die Buchhaltung aufbauen und führen, meine handwerklichen Fähigkeiten kamen beim Ausbau der Häuser zum Tragen und mit Einzug der ersten Klienten wurde auch der Soz-Päd gefordert. Ich wohnte mit meiner Familie innerhalb einer kleinen Gemeinschaft und in bester Lage; in die eine Richtung 20 Minuten bis zu nächsten Großstadt, in die andere direkt in die Natur.

Ahnst Du es schon? Genau! Je höher, desto plumps. Eineinhalb Jahre dauerte dass Idyll, dann wurde es schwierig. Eine Klientin, die anfangs mit in meiner Familie gewohnt hatte, beging Selbstmord und ich gab meinen Kollegen dafür eine Mitschuld. Depression und ein schwierigeres Verhältnis zu den Kollegen, mit denen ich ja auch zusammen wohnte, folgten. Helen, meine damalige Freundin und Mutter meiner Kinder, hatte zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon keine Lust mehr auf die Gemeinschaft. Der Einzige, der festhielt, war ich, es war einfach alles zu gut, um einfach weiter zu ziehen. Interessanterweise kam mir die Gemeinschaft eine Woche zuvor, was die Trennung anging. Gerade hatte ich während einer Abwesenheitszeit den Entschluss getroffen aufzuhören, da lag auch schon die Kündigung vor mir. Es war die größte Kränkung, die ich bis dahin erlebt hatte. Hatten wir nicht gemeinsam viele Abende an einer Geschäftsordnung herumgebastelt, die genau solche Härten abfedern und zur Diskussion stellen sollten? Hatten wir, war im Ernstfall aber nur Makulatur.

Vorläufiges Ende aller Idealismen. Kurz nach der Geburt meiner Tochter ziehen wir gemeinsam wieder nach Hessen. Mich zog es in die Nähe von Gießen, die Stadt lag in der Nähe meiner früheren Land-WG und ich mochte sie wegen ihrer Größe und der überwiegend studentischen Bevölkerung (und weil Du gefragt hast: ich wohne noch immer dort), Helen war’s recht. Einzug in eine Fast-Land-WG, gemeinsam mit einem anderen Paar plus Kind. Die WG lief über fünf Jahre gerade gut genug um nicht auseinander zu fallen. Als der Mietvertrag nach dieser Zeit ablief lösten wir sie auf, das andere Paar hatte sich ohnehin schon getrennt und mit mir und Helen lief es auch nicht gerade rosig (was immer noch eine beschönigende Weise ist, den Zustand unserer Beziehung zu beschreiben).

In der Zwischenzeit hatte ich eine Umschulung zu Kommunikationselektroniker gemacht, das schien mir weit genug weg von jeder idealistischen Betätigung, geht oder geht nicht, null oder eins. Keine Entscheidungsspielräume, die im Zweifelsfall ein Menschenleben kosten könnten. Keine überhöhten Ansprüche ans kollegiale Umfeld und niemand muss irgendwen oder die Welt retten. Kurz: das Pendel war nur zur anderen Seite hin ausgeschlagen. Dummerweise brauchte in diesem Berufsfeld niemand 38jährige Berufsanfänger, die noch dazu überqualifiziert und – weil Familie – teuer sind. Die Elektronikbranche verliert ihren besten Mann, bevor sie ihn bekommt.

Nach der Fast-Land-WG wohnten wir in Gießen, zum ersten Mal richtig und gewollt „kleinfamilienmäßig“, die Male vorher, als wir „allein miteinander“ wohnten, waren das immer Übergangssituationen. Eine schöne Wohnung mit Garten hintendran. Für ein Jahr fand ich einen Sozialpädagogen-Job, der mir sogar Spaß machte (naja, mal mehr, mal weniger), leider auf ABM-Basis. Wie auch immer, was sich gut anhört muss noch lange nicht gut sein. 1997 kommt die Trennung und 1998 ziehe ich aus. Ende meiner beruflichen Laufbahn und meines „Familienlebens“. […]

Liebe Grüße
g.

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Das zweite Leben – Adoleszenz und eine sehr, sehr lange Postadoleszenz

Dieser Artikel ist Teil einer autobiografischen Beitragsreihe in Briefform, der dringend empfohlene Übersichtsartikel dazu erklärt, wer F² ist und wie es zu diesen seltsamen „durchgezählten“ Leben kommt.

Hallo F²,

[…] Zurück zu der Zeit, als wir uns kannten. Die letzten halbwegs validen Erinnerungen an uns kann ich aufgrund der Kleidung meiner Zeit als Bürokaufmannslehrling zuordnen. Alkoholisch-verschwommene Eindrücke aus deiner WG und an politische Arbeit. Kannst Du mir auf die Sprünge helfen, warum wir uns irgendwann nicht mehr gesehen haben? Ich vermute, Du hast einfach eine anregendere Bezugsgruppe gefunden.

Mir zumindest ging es so, als ich nach der Lehre auf das Hessenkolleg wechselte. Es gelang mir ziemlich schnell in diesem eher studentisch geprägten Milieu Freunde zu finden und irgendwann wurden mir die Menschen, mit denen ich vorher zu tun hatte, zu bürgerlich und langweilig. Jede Menge neue Ideen, leider auch Alkohol in großen Mengen, weiche Drogen in kleineren. Kurz: nach drei Semestern wurde ich nicht versetzt, ging zuerst in die Verbitterung und sechs Monate später aufs Abendgymnasium in Darmstadt. Weil ich vorher schon lange genug auf dem HK war musste ich tagsüber nicht arbeiten und abends zu lernen kam meinem damaligen Lebensstil sehr entgegen. Unmittelbar nach dem Abi wurde ich zum Zivildienst einberufen und um eine lange Geschichte extrem abzukürzen: drei Zivildienststellen und zwei Jahre später saß ich mit einer Bewährungsstrafe wegen Zivildienstflucht in der psychotherapeutischen Abteilung der Gießener Psychiatrie und begann mich mit meiner Alkoholabhängigkeit zu beschäftigen. Seitdem trinke ich keinen Alkohol mehr; auch nicht an Geburtstagen oder zu Neujahr.

Wie sich leicht vorstellen lässt, fand all das an verschiedenen Orten und mit verschiedenen Partnerinnen statt. Dramatische Umzüge und dramatische Trennungen, selbst die etwas ruhigeren Zeiten waren schwierig. Intensiv, wie man im Rückblick beschönigend sagt.

Ende der allzu chaotischen Zeit, es folgt ein Studium der Sozialpädagogik an der FH in Frankfurt. Während dieser Zeit beruhigt sich mein Leben zunehmend und als ich meine Diplomarbeit beginne ist Helen schon mit meinem Sohn schwanger. Eine sehr, sehr lange Post-Adoleszenz ist durchgestanden, ich bin ziemlich genau 30 Jahre alt, als ich meine Anerkennungsstelle als Sozialpädagoge antrete. Es geht mit großen Schritten auf das Familien- und Berufsleben zu.

[…]

Viel Freude
g.

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Zeltlager

Liebe Mutti and Papi! Sind gut angekommen. Heute gab es Schmelzkartoffeln, rote Bete und Rührei. In 2 St. machen wir das erste Geländespiel. Die zwei Gruppen bauten sich gestern ihre Festungen. Unsere Festung ist gut versteckt. Nun will ich erzählen, wie das Spiel geht: Jeder Spieler kriegt ein "Lebensbändchen". Jede Gruppe kriegt einen Wimpel, die müssen wir uns gegenseitig abjagen. Zum Frühstück gibt es immer Kaffee. Herzliche Grüße Euer Günther

Liebe Mutti and Papi!

Sind gut angekommen. Heute gab es Schmelzkartoffeln, rote Bete und Rührei.

In 2 St. machen wir das erste Geländespiel. Die zwei Gruppen bauten sich gestern ihre Festungen. Unsere Festung ist gut versteckt. Nun will ich erzählen, wie das Spiel geht: Jeder Spieler kriegt ein „Lebensbändchen“. Jede Gruppe kriegt einen Wimpel, die müssen wir uns gegenseitig abjagen.

Zum Frühstück gibt es immer Kaffee.

Herzliche Grüße Euer
Günther

Wenn Ihr über das „Making of“ hierher gekommen seid, dann wisst Ihr schon, dass ich knapp neun Jahre alt war, als ich den oben abgebildeten Brief geschrieben habe. Soweit ich weiß, ist es der erste überhaupt und ich finde ihn – mit einigen kleinen, notwendigen  Korrekturen – ganz annehmbar. Und wie elegant ich mit Essen begonnen und mit Trinken geendet habe. Schon damals den Fokus immer auf die wichtigen Dinge gesetzt.

Stichwort damals, jede einzelne Erinnerung, die ich an dieses Zeltlager habe – und das sind erstaunlich viele, verglichen mit dem Fehlen von Erinnerungen, die ansonsten diese Zeit kennzeichnet – zeigt, wie sehr diese Zeiten „andere“ waren. „Zum Frühstück gibt es immer Kaffee“, schreibe ich, beachte: für Neunjährige. Bei näherem Nachdenken will ich glauben, dass es sich um irgendein kaffeeartiges Getränk handelte, das uns als Kaffee angeboten wurde. Mir hätte es bestimmt am benötigten Unterscheidungsvermögen gefehlt.

Den Kaffee gab es in einem großen Küchen- und Esszelt, in dem eine Anzahl von Biertischen und -bänken stand. Eine Essenstheke mit Thermosbehältern für Kaffee und unerinnerten Tee. Was es auch gab, waren Lautsprecher für Musik und Durchsagen. Oder eines Morgens die Aufnahme eines nächtlichen Zeltgespräches, das die Betreuer, selbst noch Jugendliche, nachts heimlich durch die Zeltwand aufgenommen hatten, und nun der Lageröffentlichkeit zugänglich machten. Heute ist das ein Straftatsbestand, damals war das vor allem peinlich. Unter anderem mir, ich gehörte zu den Aufgenommenen, auch wenn ich das zuerst nicht merkte, lange zuhörte, bis eine Passage kam, die ich eindeutig als „meine“ erkannte, obwohl mir die Stimme seltsam fremd und piepsig vorkam. Sicher war ich mir erst, als ich mich ein zweites und drittes Mal hörte. Und was ich hörte gefiel mir nicht, gar nicht. Das Phänomen, die eigene Stimme auf Aufnahmen „fremd“ zu finden, kennen vermutlich die meisten, für mich war das damals die erste Begegnung damit und ich hätte gerne darauf verzichtet.

Das Zeltlager lag in einem Tal, vielleicht auch nur einer Lichtung, auf einer Wiese, die von Wald umgeben war, idyllisch ergänzt von einem Bach. Zehn bis zwölf Schlafzelte für jeweils sechs bis sieben Kinder (auch sechs Kinder und ein Betreuer wären möglich, es ist lange her), alle im Kreis um einen Fahnenmast aufgestellt, etwas abseits die Zelte für die Infrastruktur, noch entlegener der Donnerbalken.

Der Donnerbalken muss heute vermutlich erklärt werden, er ist die damalige Entsprechung zum Dixie-Klo, verzichtet aber komplett auf Wände und Chemie. Zwei Baumstämmchen werden aufrecht im Abstand von cirka eineinhalb Meter etwa oberschenkelhoch in den Waldboden geschlagen, darauf wird horizontal ein Balken genagelt und unmittelbar dahinter eine Grube gegraben.  Jetzt kann man sich mit heruntergelassen Hosen auf den Balken setzen und in die Grube scheißen. Für die, die auf dem Balken sitzend nicht mehr mit den Füßen auf den Boden kommen, gibt es eine weitere in den Waldboden geschlagene und sehr viel höhere Stange, ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter vor dem Donnerbalken. Damit lässt sich das Gleichgewicht halten und das Toilettenpapier hängt auch daran.

Ich erinnere einen einzigen Versuch, diese „Toilette“ zu verwenden, ich gehörte zu den Kleineren und kam eindeutig nicht mit den Füßen auf den Boden, es stank und wie man sich gleichzeitig den Hintern abwischt und das Gleichgewicht hält, fand ich herausfordend. Hinzu kam das Fehlen eines jegliche Sichtschutzes, vielleicht weil wir ohnehin nur Jungs waren.

Und wir spielten echte Jungsspiele, heute würden wir sagen Krieg. Den Spielaufbau habe ich im Brief schon angedeutet, zwei Gruppen mit jeweils einer Festung und einem Wimpel, den es zu verteidigen gilt. Jeder der Mitspieler hat ein farbiges Lebensbändchen ums Handgelenk, das einerseits die Gruppenzugehörigkeit signalisiert und andererseits bei Verlust dazu führt, nicht mehr mitspielen zu dürfen. Da laufen nun also Gruppen von Kindern durch den Wald (wo waren da eigentlich die Betreuer?), die versuchen, sich gegenseitig zu überfallen und die Bändchen von den Handgelenken zu reißen. Ersatzweise einzel oder in der Gruppe mit angemessenem Körpereinsatz die Festung der Gegner zu stürmen und den Wimpel zu erobern. Was kann da schon schiefgehen?

Kurz, das war kein Spiel für mich. Ich bin schon mit fünf eingeschult worden und war schon aus diesem Grund immer einer der Jüngsten, oft auch einer der Kleinsten, in Klassen- und sonstigen Verbänden. So lernt man, Raufereien besser zu vermeiden, die Sache mit den Lebensbändchen war so gar nicht mein Ding. Ich glaube, ich bin sehr früh und mit wenig Gegenwehr ausgeschieden.

Interessanterweise erinnere ich wenig wirkliche Angst, obwohl wir in einer „gefährlichen“ Lage waren. Uns wurde gesagt, eine andere Zeltlagergruppe, die gar nicht so weit von uns entfernt lagern würde, wolle uns überfallen. Aus diesem Grund mussten wir eine Nachtwache einrichten, in Schichten zu zwei Stunden liefen nachts jeweils zweimal zwei Jungs rund ums Lager. Ich hielt das schon damals für eine Geschichte, auf kindliche Weise war mir ein Überfall unplausibel. Warum sollten die das tun?

Und es gab den „Bösen Marabu“, wer ihm begegnete, endete über und über mit Zahnpaste beschmiert mitten in der Nacht im Bach, wo er sich säubern müsste. Die Sache mit der Zahnpaste war mir ein klarer Hinweis darauf, dass da eher übermütige, jugendliche Betreuer  am Werk waren, als schlecht benannte Fabelwesen. Obwohl es unwahrscheinlich ist, glaube ich, dass ich mit kurz vor neun irgendwo aufgeschnappt hatte, dass der Marabu ein Storchenvogel ist, gewiß groß, aber sicher nicht böse.

Andere waren vielleicht nicht ganz so stabil, zumindest einer meiner Zeltgenossen endete nächtens im Bach. Aber nicht, weil der Böse Marabu am Werk war, sondern weil er sich im Schlaf eingeschissen hatte. Damals hatte ich dazu keine Meinung, heute denke ich, dass das Zeltlager selbst jede Sorte von Schließmuskelschwäche begünstigte.

Ich selbst fand mich auf der anderen Seite des Spektrums. Nach meinem oben geschilderten ersten Versuch auf dem Donnerbalken ging ich nicht mehr auf’s Klo, bekam nach einer Woche Fieber und musste von meinen Eltern abgeholt werden.  Und war kein bisschen böse darüber.