Ein Montag, wie ich mir den gestrigen Sonntag gewünscht hätte. Es ist sonnig, ich sitze auf der Terrasse, lasse den Tag langsam beginnen. Ein C-Falter kommt vorbei und lädt mich zu einer Foto-Session ein, „C-Falter auf Zeh“.
Ich lese etwas, aber im Hinterkopf habe ich noch den Traum letzter Nacht. Ich träumte von Tine, mit der ich Mitte der 70er Jahre und auch im Traum zusammen war. Wir küssten uns; ich erwachte nur sehr widerwillig.
Ich habe selten Träume, die ich mir merken kann, noch seltener solche, die etwas bedeuten. Aber aus den seltenen und bedeutsamen Träumen habe ich gelernt, wie ich Themen oder Personen variiere, wenn ich aus unbekannten Gründen nicht Klartext träumen kann. Heute allerdings versagt meine Hobby-Traumdeuterei. Die Nähe von Tine und Tini ist offensichtlich genug und ein Blick auf das Datum zeigt, dass wir ziemlich genau vor einem Jahr für eine kurzen Spätsommer zusammenkamen. Darüber hinaus gibt es wenig Ideen, denn auch im Traum ist wenig geschehen. Wir sind auf einer WG-Party im 70er-Jahre-Setting und küssen uns. Es ist ein Kuss, der für sich steht, der weder auf eine vergangene noch eine zukünftige Beziehung hinweist, der lustvoll ist ohne zu drängen, der im Moment verweilt.
Und während ich dies schreibe, überlege ich, ob es nicht ein sehr „abstrakter“ Kuss ist, einer, der nicht auf eine Person oder ein konkretes Wünschen bezogen ist, sondern in allgemeinster Form auf libidinöse Wünsche verweist. „Libidinöse Wünsche“ klingt schonmal abstrakt genug.
Konkret: Die Geschichte mit Tini ist überwunden, auch wenn es ein ähnlich zäher und widerwilliger Prozess war, wie das Erwachen aus dem Traum heute morgen. Ich werfe ihr nichts vor und hoffe, dass das umgekehrt genauso ist. Soweit ich mich in ihre Perspektive versetzen kann, hat sie alles richtig gemacht (Stimme aus dem Off: „Naja, fast!).
Meint: ich erlebe mich – wieder – als zugänglich für Akte freundlicher Zuwendung und entwickle darüber mal einen ernsthaften Crush, mal eine kurzlebige Phantasie. Nichts davon verfolge ich ernsthaft, auch deswegen, weil zu den bereits vorhandenen roten Flaggen ein paar neue hinzugekommen sind. Obwohl es für den Moment die alten durchaus tun: keine Frauen in bestehenden Beziehungen und keine zu zu jungen Frauen.
Ein für mich neuer und bemerkenswerter Standpunkt dazu kommt von meiner Therapeutin. Während sie einerseits die roten Flaggen als solche nicht in Frage stellt, rät sie andererseits „im Gefühl zu bleiben“, den Zustand des Bereit-seins als Wert anzunehmen und auch, mit besonderer Betonung, als Lebens-Zeichen.
Und so übe ich mich darin „im Gefühl zu bleiben“ und pflege eine kleine Als-ob-Verliebtheit, als könne sie sinnvollerweise irgendwohin führen. Erstaunlicherweise geht es mir trotz vorausgesetzter Vergeblichkeit gut damit. Ich kann zugewandt sein (bis hin zum Ausschluss Dritter), ohne bei mir oder dem Gegenüber Erwartungsdruck auszulösen. Ich kann meine Unsicherheiten wahrnehmen, ohne sie ernstzunehmen (sie können nicht verhindern, was ohnehin schon ausgeschlossen ist). Ich kann mir Mühe geben, ohne bemüht zu sein. Vielleicht, sehr vielleicht, nehme ich etwas mehr von der Gegenüberin „wahr“, weil die rosarote Brille über den Als-ob-Schalter stufenlos regelbar ist. „Im Gefühl zu bleiben“ erlaubt spielerisch und ernst zugleich zu sein. Ich bin sehr fein damit.
Ein Thema für einen anderen Tag wäre, ob und wie diese Haltung des spielerischen Ernstes auf andere Begegnungssituationen abfärbt. Mir kommt es so vor.
<O>
So steht’s unter dem heutigen Datum im Tagebuch. Dann hatte ich die Idee, den Eintrag mit Euch zu teilen, und mein Nachdenken wurde viel zu bemüht. Statt nachzudenken bin ich einkaufen gegangen. Gute Entscheidung, mit einem halben Tag Abstand bin ich bereit, den Traum einfach als Befindlichkeitsanzeiger anzusehen, „Ich bin wieder da“, will er sagen, zuerst mir, dann Euch und wenn Ihr wollt, dürft Ihr es gerne weitersagen.