Das vierte Leben – nennen wir es Midlife-Crisis

Dieser Artikel ist Teil einer autobiografischen Beitragsreihe in Briefform, der dringend empfohlene Übersichtsartikel dazu erklärt, wer F² ist und wie es zu diesen seltsamen „durchgezählten“ Leben kommt.

Hallo F²,

[…] Dass Männer in ihrer Lebensmitte zu allerlei Unvernunft neigen, ist bekannt. Leider mache auch ich da keine Ausnahme. Nebenbei: Ich mache oder bin ich überhaupt sehr selten eine Ausnahme; daran gemessen, dass ich mich in meiner Jugend für etwas sehr Besonderes gehalten habe, bin ich geradezu schmerzlich normal. Einer meiner Therapeuten hat mir mal gesagt, ich solle endlich einsehen, dass ich ein Wald- und Wiesenneurotiker sei. OK, akzeptiert.

Zumindest so bis ins 40. Lebensjahr. Ich arbeitete ehrenamtlich in einen Eine-Welt-Laden und dort gab es den Plan, eine Bücherei in einem renovierten Bauwagen einzurichten. Der Plan wurde fallengelassen als der Bauwagen schon vorhanden war. So kam ich günstig zu einem gebrauchten Bauwagen, der auf einem besetzten Universtätsparkplatz stand. In direkter Nachbarschaft zu den Besetzern eben jenes Parkplatzes. Ich ließ mich näher heranziehen und war fortan ein Teil der Platzbesetzer. Schon vier Wochen später zogen wir in einer Nacht- und Nebelaktion auf ein sehr viel schöneres Universitätsgelände um, auf dem wir die nächsten fünf Jahre ohne jeglichen Räumungsdruck verbrachten.

Mit der Familie ließ sich das natürlich kaum vereinbaren, war allerdings auch nie so gedacht. Zu Beginn meiner Bauwagenzeit schaffte der möglich gewordene räumliche Abstand eine Voraussetzung um überhaupt zusammen zu bleiben. Irgendwann kam sogar ein kleiner Wagen für die Kinder dazu, den sie benutzten, wenn sie bei mir auf dem Platz waren. Nachdem auch die Familie nach Gießen gezogen war, ging es uns erst sehr viel besser miteinander und dann sehr viel schlechter. Auch meine Freundin kriselte lebensmittenmäßig und aushäusig, was letztlich zu meinem „richtigen“ Auszug führte. Bis dahin hatte ich immer noch ein Zimmer, Klamotten und eine Meldeadresse bei der Familie gehabt, das änderte sich nun.

Nicht wirklich zufrieden mit meinem Single-Dasein beschloss ich, meinen „Mit-50-werde-ich-…-Plan“ um 8 Jahre vorzuziehen und mich nach Indien aufzumachen. Und so kam es, dass ich von Oktober 98 bis März 99 in Indien war. Einen Teil der Zeit verbrachte ich in Workcamps, wo ich gemeinsam mit anderen Europäern und Einheimischen an sozialen Projekten mitarbeitete und nebenbei Land und Leute abseits der touristischen Pfade kennenlernen konnte. Ein anderer Teil der Zeit war selbstverständlich eben jenen touristischen Pfaden gewidmet, obwohl ich bestimmt auch da manchmal eher auf den Trampelpfaden unterwegs war, z.B. als ich eine Nacht auf dem Bahnhof von Bombay verbrachte, als einziges Bleichgesicht unter vielen, vielen sehr verarmten braunen Gesichtern. Was eigentlich nur deswegen geht, weil es auch unter ärmsten Verhältnissen so etwas wie Anständigkeit gibt. Ich bin sehr sicher, dass ich in dieser Nacht während meines Schlafes durch die Allianz dieser Anständigen geschützt war.

Vieles war wichtig in diesem halben Jahr, ein herausragendes Einzelerlebnis war aber sicher mein vierwöchiger Aufenthalt in einem Zendo in Südindien. Ein Zendo ist ein Ort, an dem man Zen übt, eine buddhistische Spielart, die sich in Japan entwickelt hat. Rückimportiert von einem jesuitischen Pater ist dieses Zendo, das einzige in ganz Indien, auf dem Gelände eines Jesuiten-Ordens gelegen und trotzdem ganz fern dem christlichen Gedankengut. Das Leben in einem Zendo spannt sich auf zwischen Meditation, Gemeinschaftsdiensten (gärtnern, kochen, saubermachen) und Studienzeiten, gänzlich freie Zeiten sind nur kurz. Wer will kann sich im Tagesablauf ausschließlich an akustischen Signalen orientieren, alles wird mit spezifischen Gongs oder hölzernen Schlaghölzern angezeigt. Wer es genießen kann, einige Zeit vollkommen von eigenem Wollen und Wünschen befreit zu sein (weil es weder Raum noch Zeit dafür gibt), ist an so einem Ort genau richtig. Ich war genau richtig.

Weswegen ich auch in den zwei darauf folgenden Jahren jeweils einen Monat dort verbrachte, gefolgt von nochmals vier Wochen Reisezeit. Indien kannte ich, also gings im zweiten Jahr nach Bangladesch und im dritten nach Sri Lanka. Aus meinem ersten Aufenthalt hatte ich gelernt, dass zwei Monate Reisezeit genügen, um bis unter die Ohren mit neuen Eindrücken abgefüllt zu sein. Und ich wusste, dass es mehr Spaß macht in Gemeinschaft zu reisen. Bangladesch besuchte ich gemeinsam mit einem Freund aus der Workcamp-Organisation, Sri Lanka schon mit meiner neuen Freundin.

Auch meine Freundin hatte ich über die Workcamp-Organisation kennengelernt. Sie hatte mich im Rahmen eines Seminars auf die kulturellen Eigenheiten der asiatischen Länder vorbereitet. Nach meiner Rückkehr aus Indien habe ich genau diese Seminare mitgestaltet, wir wurden erst Teamkollegen und im Sommer nach Bangladesch ein Paar. Es ist schwer, dieser Beziehung gerecht zu werden. Zu den üblichen Geschlechterunterschieden kamen 16 Jahre Altersunterschied und die kulturellen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Interessanterweise gibt es einen Tagebucheintrag aus unserer gemeinsamen Zeit im Zendo, der die ganze Geschichte unserer Beziehung vorweg nimmt und den ich gerade herausgesucht habe.

[Zitat] 15.1.2001
Gestern ein freier Tag, zugleich Pongal – Erntedankfest – hier. Auf einem unserer Wege ins Dorf blieben D. und ich auf einem Felsen sitzen – Aussicht auf herrlichste Berglandschaft und einen „Mittagsmond“ – und sprachen.

So langsam tritt der Altersunterschied in unsere Beziehung auch als Vater-Tochter-Beziehung ein. Sie fühlt sich klein neben mir (was sie objektiv nicht ist!) und hat (wenigstens einmal, am Abend zuvor) das Gefühl, mit ihrem Vater zu schlafen. (…)

Und während ich ihr (…) die Verantwortung für unseren inneren Abstand zuschiebe, verursache ich ihn auf anderen Gebieten ganz genauso.

Nur allzu leicht räume ich in Gesprächen wie dem gestrigen ein, dass unsere Beziehung enden könnte, enden wird. Dass da ein junger, zeugungsfähiger Mann kommen wird, mit dem sie das Kind haben könnte, von dem sie träumt (oder das sie vorschiebt um einen objektiven Grund für unser nicht-zusammen-kommen-können zu haben). [Einschub: Ich habe mich nach der Geburt meiner Tochter sterilisieren lassen] Ich kann diese Zeit leicht ansehen und darüber reden, dass es vielleicht der Sinn unserer Beziehung war, ihre Vater-Tochter-Dinger aufzulösen oder doch wenigstens ertragbarer zu machen. Das tut beim Drüberreden nichtmal weh, obwohl mir schon jetzt davor graut, die Trennung real zu erleben. In meiner Phantasie bleibe ich mit ihr freundschaftlich verbunden.
[Zitatende]

Nachzutragen bleiben eigentlich nur die äußeren Bedingungen unserer Beziehung. Die erste Zeit lebten wir in Gießen auf dem Bauwagenplatz, der inzwischen ein altes Schwimmbad gekauft hatte (ja, wirklich) und eine aufregende Pionier- und Renovierungszeit durchlebte. Das letzte Jahr unserer Beziehung waren wir in Bonn, wo D. Arbeit gefunden hatte und ich eine einjährige Fortbildung zum EMT, Experte für Multimediales Training, bei Siemens machte. Wir lebten in einer netten kleinen netten Wohnung und ich bemühte mich, der Mann zu sein, den sie sich wünschte. Am Ende des Jahres wusste ich, dass ich dieser Mann niemals sein könnte und zog zurück in meinen Wagen.

Es folgte eine schwere Zeit, in der ich mit mir und meiner Umwelt sehr unzufrieden war, mir mal wieder eine Therapie antat, diesmal verhaltenstherapeutisch orientiert, und schließlich wieder in meinem kleinen Leben ankam, dem Leben, in dem ich zwar auf äußerst bescheidenem Niveau lebe, mir dafür aber niemand vorschreiben möchte, wie ich gekleidet zu sein oder mich zu benehmen habe.

An dieser Stelle lasse ich mein viertes Leben enden, vielleicht etwas willkürlich. In der Rückschau war das alles gut so. Wagenleben, Asien, Beziehung zu D., alles sehr belebend. Geschenkt, dass dann alles längst nicht so toll ist, wie man sich das zu Beginn immer vormacht. Ich glaube es gibt so etwas wie ein geistig-emotionales Trägheitsmoment, das uns immer wieder auf unser gewohntes Level einschwingt. Wenn ich, von der depressiven Seite her kommend, etwas als belebend bezeichne, ist das schon ziemlich gut. Es bedeutet, dass es zumindest zu Beginn begeisternd war, anziehend, Wert schien, dafür etwas auf sich zu nehmen, in die Gänge zu kommen. […]

Liebe Grüße
g.

Wo Du weiterlesen kannst:

    • Übersichtsartikel
    • Das erste Leben – Kindheit bis zum 15. Lebensjahr (noch nachzuliefern)
    • Das zweite Leben – 16. bis 30. Lebensjahr, 1973 bis 1985
    • Das dritte Leben – 31. bis 42. Lebensjahr, 1986 bis 1997 und darüber hinaus
    • Das vierte Leben – 43. bis 49. Lebensjahr, 1998 bis 2005, aber auch früher
    • Das fünfte Leben – 50. bis 65. Lebensjahr (noch zu ergänzen)
    • Das sechste Leben – 66. Lebensjahr bis auf weiteres, dieser Blog

 

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