24871 bis 24877 – Ein Ort zum Schreiben

Der Beitrag fasst sieben ursprünglich getrennt und tagesgenau veröffentlichte Artikel zusammen. Damit schließe ich an die Gewohnheit an, meine Reiseberichte am Stück – oder doch wenigstens wochen- bzw. abschnittsweise zusammengefasst – zu präsentieren. Hier nun der Aufenthalt in Hummelfeld/Fellhorst.

24871 – Hummelfeld/Fellhorst

Gestern abend habe ich recht willkürlich bei meiner Ankunft in Rendsburg abgebrochen, weil ich den Hummelfeldbeitrag geschlossen halten möchte. Nachdem E. mich also vom Bus abgeholt hat, fahren wir zurück nach Hummelfeld, wo F. und R. mich begrüßen. Sie haben mit dem Abendessen gewartet und wir kommen gut ins Gespräch, lachen viel und sind ganz allgemein guter Dinge. Der Abend zieht sich angenehm in die Länge., erst gegen halb zwölf richten wir noch kurz meine Bleibe für die nächsten Tage her. Die Familie geht in die jeweiligen Betten während ich mich einrichte und den Tag verblogge.

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Hummelfeld ist nicht wirklich eine No.1-Destination, und ungefähr so groß und aufregend, wie der Name es nahelegt, aber für meinen Zweck genau richtig. Ich besuche dort F&E und Sohn R., wir haben mehrere Jahre in meinem Wohnprojekt zusammengewohnt und sind vertraut genug miteinander, um auch mal sensible Beziehungsprobleme auf den Küchentisch zu legen. Denn darum wird es gehen, vermutlich nicht im Einbahnstraßen-Modus.

Neben der Möglichkeit, meine Liebes- und Leidensgeschichte zum wiederholten Male vorzutragen, gibt es in Hummelfeld auch das oben bereits erwähnte Gästezimmer, das ich intensiv nutzen möchte. Ich will schreiben. Aufschreiben. Will meine Version dessen aufschreiben, was T. und mir geschehen ist. Der Text wird lange und nur für mich sein. Zuviel muss hinein, neben der Kränkung und Enttäuschung auch die Wut darüber. Möglicherweise wird das etwas künstlich (ich bin gespannt), denn ich bin schon im Verstehens- und Entschuldigungsmodus und finde das verfrüht.

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Am Morgen erwache ich und bin im Text, ich möchte soweit es geht chronologisch vorgehen, die Vorgeschichte, soweit sie hier im Blog erscheint, ist schon zitiert und wartet darauf kommentiert zu werden. Es ist wie mit dem Werbeslogan für Beton aus den 80ern: „Es kommt drauf an, was man draus macht!“

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Ich komme gut voran. Gegen zwölf habe ich einen Einschnitt im Text, der es erlaubt in die Küche zu gehen und zu schauen, was F. so macht. In der Folge reden wir viel; vor, während und nach dem riesigen Lebensmitteleinkauf, den wir quasi nebenher erledigen. Dabei sind wir keineswegs nur bei den schwierigen Dingen, vieles aus unserer gemeinsamen Vergangenheit kommt gesprächsweise nochmal vorbei, es ist schön und angenehm vertraut. Ab drei sitzen wir beide wieder an unseren jeweiligen Aufgaben.

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Fünf Stunden später beginne ich Gemüse zu schnippeln, später wird das zu einer asiatischen Gemüsepfanne. Es ist das einzige Gericht aus meiner kalorienarmen Küche, das ich sicher beherrsche. Gegen zehn essen wir gemeinsam, ab elf sitze ich mit E. alleine am Küchentisch und wir reden so lange, dass ich zum ersten Mal verpasse, den Blog noch vor zwölf einzustellen. Gut so.

24872 – Down Memory Lane

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Schreiben – Waldspaziergang – Schreiben – Abendessen – Erinnern

24873 – Weihnachtsmarkt und Schreibstube

Ich bin früh wach und stehe auf, beginne zu schreiben. Gegen 10 Uhr frühstücken wir zusammen und ab zwölf sind wir nach Schleswig unterwegs um einen Weihnachtsmarkt zu besuchen, der im Schleswiger Dom stattfindet.

Eine sehr angenehme Veranstaltung, nicht überlaufen, bei den Verkaufsständen jeweils nur ein Anbieter für ein Sortiment, was die Veranstaltung sehr übersichtlich macht. Gegen drei sind wir wieder zu Hause.

Ich koche mir einen Kaffee und setze mich ans Tablett. Noch vorm Abendessen habe ich einen wesentlichen Einschnitt im Text erreicht. Es ist jetzt (fast) alles, was ich aus unserer vergangenen Beziehung weiß, erinnere oder im Blog und Tagebuch notiert habe, in einem halbwegs fließenden Text vereint.

Die Zeit von sieben bis zehn vergeht mit kochen, essen und Gespräch.

24874 – [„…!“]

Ich bin früh wach und stehe auf, beginne zu schreiben. Ab zehn frühstücken wir zusammen und ab zwölf …, ja, so ging das gestern auch los.

Heute wird ab zwölf wieder geschrieben, aber anders, als an den Tagen davor. Die zurückliegenden drei Schreibtage waren so etwas wie eine Schreibübung. Ich wollte wissen, ob ich regelmäßig und zielorientiert auch einen längeren Text schreiben kann. Konnte ich.

Na ja, fast. Etwas fehlte, die Emotionen. An denen bin ich jetzt. Wer jemals drei bis sieben Selbst- oder Lebenshilfebücher gelesen hat, kennt den Rat, einen niemals abzuschickenden Brief an den jeweiligen Konfliktpartner zu schreiben. Mache ich gerade. Nicht mit Überlegung, sondern mit Geschwindigkeit, einfach erstmal in die Tastatur gerotzt. Klappt erstaunlich gut und ist trotz des Mangels an erkennbarer Struktur immer noch erstaunlich lesbar.

Dennoch kratze ich nur an der Oberfläche, solange ich mich an einem „Konfliktpartner“ abarbeite. Ich beende den Brief mit dem Vorsatz, morgen zu kratzen bis der Lack ab ist.

Mit der früh einsetzenden Dunkelheit starten wir nach Luisenlund zu einem weiteren Weihnachtsmarkt. Auch dieser klein und mit wenigen ausgesuchten Ständen. Ich suche handgestrickte Wollsocken, finde auch einen passenden und preisgünstigen Stand, leider ist meine Größe schon ausverkauft. Später bekomme ich gegen das Aufsagen eines Weihnachtsgedichtes (strenggenommen eines Gebetsdreizeilers, man kann nur geben, was man hat) eine Mandarine vom Weihnachtsmann geschenkt (und man nimmt, was man kriegt). Kleine Erlebnisse.

Nebenbei machen wir ein paar Fotos von mir, jeweils mit F. und E., die gerade die Bilder für das Foto-Jahrbuch der Familie zusammenstellt. Aus einem von vor elf Jahren habt Ihr ja schon einen Eindruck erhalten. Und dann findet mensch in zehn Jahren vielleicht eines dieser heute gemachten Bilder und denkt, ach guck‘, der g., der war damals da, mit uns.

Abendessen mit Gemüsepfanne, anschließend ziehen wir uns alle nochmal in die jeweiligen Gehäuse vor die Geräte zurück. Mich überkommt eine große Müdigkeit und ich lege mich „kurz“ auf’s Bett.

Wieder wach verblogge ich den Tag für Euch. Und nochmal zu E. für den Rest des Abends. Gutes Gespräch.

24875 – Gehen Sie weiter, …

Anders als an den beiden Tagen zuvor schlafe ich lange und gut. Es wird elf, bis ich vor meinem Kaffee sitze und eins, bis ein paar Reiswaffeln gefrühstückt und nebenbei die Rückfahrt organisiert ist. Die Bahn hat mit ihrem Angebot Flixbus bei Preis und Zeitaufwand geschlagen. Jetzt bin ich sehr gespannt, wie das mit den Anschlüssen klappen wird, meine letzten Bahnerfahrungen im Regionalverkehr waren an dieser Stelle eher schwierig.

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Meiner markigen Ankündigung, zu „kratzen bis der Lack ab ist“, kann ich nicht gerecht werden. Wenn ich freundlich mit mir sein will, ist mein Geschriebenes eine halbwegs zutreffende Beschreibung inneren Erlebens, aber …

[Sorry Leute, hab‘ gerade einen ganzen Teil herausgenommen, der mir innerhalb der dreißig Minuten, die er online war, irgendwie seltsam vorgekommen ist.]

Gehen Sie weiter, es gibt hier nichts zu sehen.

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Ich bin zufrieden mit dem, was ich hier in Hummelfeld für mich erreicht habe. Vielleicht etwas übertrieben, vielleicht an manchen Tagen unnötig redudant, hat sich – hoffentlich – die emotionale Selbstbespiegelung insofern gelohnt, als ich sie zuhause nicht nochmals, und nochmals, und nochmals (Ihr kennt das) durchlaufen muss. Ich erwarte mit Spannung den Realitätsabgleich.

24876 – It’s a kind of magic

Heute ist der letzte volle Tag in Hummelfeld. Ich bin im Urlaubsmodus, nichts was am Tablet geschieht, müsste wirklich geschehen, auch wenn ich noch die eine oder andere eckige Klammer aufarbeite. Mit eckigen Klammern kennzeichne ich mir Bearbeitungshinweise in unfertigen Texten [hier eventuell Beispiel einfügen].

Den Urlaubsmodus erkennt mensch am Geocaching. Ich habe einen angemessen langen Spaziergang im Wald gemacht und weil der Mensch ein Ziel braucht, habe ich den nächsten Cache angelaufen und auch gefunden.

Vergleichsweise früh am Nachmittag wieder zurück. Es ist noch viel vom Tag übrig. Ich beginne für die erste Zeit zuhause zu planen. Ich schreibe einen später zu veröffentlichenden Blogbeitrag.

Später nehme ich ein Wannenbad und habe den Gedanken, dass ich damit den Aufenthalt hier rahme, ein Wannenbad unmittelbar davor und eines zum spätmöglichsten Zeitpunkt hier. Dazwischen der Text, der mir einen Abschluss ermöglichen soll. Und das Re-Reading von „Menschliche Kommunikation – Formen, Störungen, Paradoxien“  (Watzlawik u.a.) habe ich diese Nacht abgeschlossen. Und die letzte Folge, der zwei Staffeln „Better Off Ted“, die ich als mediale Wegzehrung dabei hatte,  gerade eben. Soviel Abschluss an einem Tag, in meinem Kopf findet das alles zusammen. Ich kann das gut als magisches Denken identifizieren, sei’s drum, das ist nur eine magische Klammer mehr, denn in Berlin ging es auf dieser Tour mit dem Magicum ja los. Die Tour als Ent-Bindungs-Zauber. Ich lass‘ das mal so stehen.

Ab sechs kochen wir zusammen, um sieben essen wir und um acht sitzen wir vor den Geräten. Später sitze ich noch etwas mit E. zusammen.

24877 – Ein voller Rückreisetag

Weil ich vermutlich nicht zum Schreiben kommen werde:

Wir planen für den frühen Nachmittag einen Besuch in Flensburg bei J., den Ihr schon auf dem Down-Memory-Lane-Foto gesehen habt. Heute auch elf Jahre älter.

Am Abend hat E. einen Termin in Kiel und kann mich bei der Gelegenheit mit zum Bahnhof dort nehmen.

Es folgt eine Zugfahrt, die in Gießen endet, kurz nachdem dieser Text online geht und der letzte Bus in meine Richtung abgefahren ist.

Wenn ich clever bin, nehme ich mir ein Taxi, wenn ich ich bin, laufe ich zwei Stunden nachhause (Spoiler: ich war clever).

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Der ICE hat WLAN und ich komme doch zum Bloggen, ab jetzt gibt es Live-Berichterstattung:

Fünfzehn Minuten vor Abfahrt informiert die Anzeige, dass der gebuchte ICE heute nicht von Kiel abfährt, stattdessen von Neumünster. Dorthin werde ich, gemeinsam mit etlichen anderen via Regionalbahn gebracht. Der ICE wartet dort auf uns, eigentlich alles einfach und gut gelöst, aber natürlich ist die zwischendrin aufkommende Unsicherheit (denn zu Beginn der Fahrt ist keineswegs klar, dass alles einfach und gut sein wird) lästig und unangenehm. Labilere Geister imaginieren Nächte auf zugigen Bahnhöfen. Nächste Aufgabe: Umsteigen in Hamburg, es ist alles etwas knapper als geplant.

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Klappt dennoch gut, der ICE hat einen Teil der Verspätung aufgeholt. Ich warte komfortable fünfzehn Minuten auf dem Umsteigebahnsteig.

Das Umsteigen in Kassel-Wilhelmshöhe wird den Schwierigkeitsgrad deutlich steigern, fünf Bahnsteige sind in acht Minuten zu überwinden. Ich bin bereit, an der Herausforderung zu wachsen.

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Und dann wird’s vor Ort nochmal richtig spannend. Eine Verspätung verkürzt die Umsteigezeit auf drei Minuten und die zu bekommende Regionalbahn ist die letzte für heute. Wir erinnern uns an die labileren Geister, die Nächte auf zugigen Bahnhöfen visionieren. Denen schließe ich mich nun wohlbegründet an und beeile mich unwürdig.

Und gut so, ich stehe keine dreißig Sekunden auf dem richtigen Bahnsteig, da fährt die Bahn ein. Dass es wirklich die richtige Verbindung ist, kann ich nicht überprüfen, sowohl auf dem Bahnsteig, als auch in Zug sind die Anzeigetafeln außer Betrieb. Soviel kann ich sagen, die Richtung stimmt.

Meint: Sofern ich jetzt nicht den Ausstieg verpasse, sollte ich so gut wie zuhause sein. Ankunft 0.05 Uhr.

24862 – Mandala für Ursula


Bin gerade tief in meinen alten Tagebüchern. Das ist nicht nur gut, aber gelegentlich stoße ich auf Einträge, an die ich lange nicht dachte. So war mir wirklich nicht mehr bewußt, dass ich einige meiner Mandalas in den Tagebüchern vorskizziert habe. Und ich mag es sehr, meine Entwürfe mit den ausgeführten Arbeiten zu vergleichen. Nebenstehend der Entwurf vom 7.1.1990, oben die Ausführüng zwei Tage später.


Den Entwurf fand ich beim Bättern und habe dann sehr schnell beschlossen, ihn Euch zusammen mit dem ausgeführten Mandala zu zeigen. Und zwar deswegen, weil ich das Mandala einige Tage zuvor schon einmal in der engeren Auswahl hatte, dann aber davon Abstand nahm, weil es mir im unteren Teil zu dunkel war.

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Soweit war ich im Text, meint: fertig.

Interessehalber und weil es so einfach war, habe ich im Tagebuch zwei Seiten zurückgeblättert, um zu sehen, was eigentlich unmittelbar vor diesem „dunklen“ Entwurf geschehen war. Denn ich ordnete mir diese Dunkelheit zu. Stattdessen stieß ich auf einen Zusammenhang, der – fast fünfunddreißig Jahre lang nicht erinnert – bis heute und eineinhalb Meter nah an mich heranreicht. Das halte ich für bemerkens- und beschreibenswert.

Bei meinem Feuerholz, also nahe dem Ort, an dem ich gerade sitze, liegt ein Bildband, der eine psychoanalytische Deutung des Märchens „Das Mädchen ohne Hände“ enthält. Und es liegt dort in großer Ambivalenz, es wurde erst kürzlich während meiner Bücherumräum-Aktion dorthin gespült. Eine oberflächliche Ansicht (erstmals wieder nach vielen Jahren) hatte mich abgeschreckt: zu grausam (ja wirklich, sogar als Märchen) und zu religiös im Ausgang und in der Ausdeutung. Aber so unglaublich schöne Illustrationen …, ich wusste nicht, ob ich mich davon trennen sollte oder nicht.

Auf den Seiten, die ich im Tagebuch aufschlug, las ich die lange vergessene Geschichte, wie ich zu diesem Band gekommen bin. Im Januar 1990 nahm ich regelmässig an einer Therapiegruppe teil, Ursula war eine Mitklientin, die sich das Leben nahm. Den Rest erzählt das Tagebuch:

3.1.1990
„Ursula ist tot. Seit heute Mittag wissen wir es sicher. Zuvor die starke Ahnung.

Heute Abend fuhr es in mir Achterbahn. Heftige körperliche Reaktion; schlecht war mir, wie selten in den letzten Jahren. Ich stand irgendwo zwischen Kotzen und Weinen. Kotzen konnte ich gar nicht, weinen nur wenig. Schlimm war, für den Zustand keinen Namen zu haben, in Gedanken all die Etiketten durchgegangen, die wir hier ständig angeboten bekommen: Trauer, Wut, Schmerz, Kränkung, Ohnmacht, nichts von all dem. Ohne Namen..

Schlimm auch, zu bemerken, dass es nicht half, eine Schulter, eine Hand angeboten zu bekommen. Das “stille Toben“ blieb in mir. Irgendwann war ich dann müde, oder besser: ich wollte in mein Bett […]. Bin schnell eingeschlafen und ca. eine dreiviertelstunde später wieder aufgewacht.

Nach dem Aufwachen geht es mir wieder besser. Habe mir unsere Ecke mit Kerzen, Musik und Tagebuch eingerichtet, schreibe und spüre, dass das so richtig ist. […]

The winds fell 
and there came a great calm

Bleibt mir, morgen in der Gruppe noch Ursula’s “Abschiedsgeschenk” anzusprechen. Sie hat mir ein Buch ausgeliehen, ein Märchen und dessen tiefenpsychologische Ausdeutung, das “Mädchen ohne Hände”. Ich glaube tatsächlich, dass sie es mir geschenkt hat, denn sie hat es mir auf so unbestimmte Art und Weise geliehen, wie es möglich war, ohne mich argwöhnisch zu machen. Ich solle es nehmen, lesen wann ich wolle und auch ins Wochenende mitnehmen, mir keine Gedanken darum machen, wann ich es ihr zurückgebe. All das nicht mit diesen Worten, aber mit dieser Botschaft.

Trotzdem brauche ich noch von außen die Bestätigung, dass ich es wirklich behalten darf, das andere das auch so sehen, dass ich nicht irgendwelche Erben betrüge.

Kern der Ausdeutung und Ende des Märchens nach langer und schmerzensreicher Geschichte ist die Aussage, dass wir alles (ALLES) nur aus Gottes Gnade bekommen. Wenn wir etwas von Menschen bekommen, ist dies immer zu wenig oder wendet sich ins Gegenteil. Es sei denn, diese Menschen sind Mittler oder Überbringer göttlicher Gnade.

Soweit mein Verständnis der Geschichte nach erster und oberflächlicher Lektüre. Ich werde sie sicher noch mal genauer lesen. Irgendwie habe ich das Gefühl, mit dem Buch eine wichtige Botschaft hinterlassen bekommen zu haben; so als hätte sie mir überreicht, was ihr nicht mehr helfen konnte, ihr aber wertvoll genug erschien, um es in verständige Hände weiterzugeben.“

Es folgt im Tagebuch die oben gezeigte Skizze

Depression und Testosteron

Schon in Berlin bin ich im Gespräch mit Hannah darauf gekommen, dass es möglichweise Zusammenhänge zwischen meiner verstärkt auftretenden Depression und der zurückliegenden Prostatabestrahlung geben könnte. Genauer gesag, dass aus der Prostatabestrahlung ein Testosteronmangel entstanden ist, der nun das Depressionsgeschehen begünstigt. Vielleicht erinnert Ihr Euch, ich hatte vor der Bestrahlung die eigentlich obligatorische Testosteronunterdrückungstherapie abgelehnt, weil deren Nebenwirkungen zu sehr denen einer Depression ähneln. Da schien es nicht unplausibel, wenn ein anderweitig entstandener Testosteronmangel ebenfalls depressionsverstärkend wirken würde.

Heute bin ich der Idee mal etwas nachgegangen und sie wirkt plausibler als jemals zuvor. Bekannt ist, dass der Testosteronspiegel nach einer Prostatabestrahlung sinken kann, ebenfalls wissen wir, dass zu den Symptomen eines Testosteronmangels verminderte Libido, Antriebslosigkeit, Stimmungsschwankungen und Schlafstörungen zählen (Haken an alles – ebenfalls gerne genommen sind Gewichtszunahme und erektile Dysfunktion, beides betrifft mich glücklicherweise noch nicht).

Wenn zu wenig Testosteron schlecht ist, ist die Gabe von Testosteron dann gut? Und hilft sie auch dann, wenn wir unser Symptombündel nicht unter dem Oberbegriff Testosteronmangel zusammenschnüren, sondern es Depression nennen? Nun, es gibt starke Hinweise darauf und wie immer auch Gegenstimmen (die hier nur erwähnt werden, weil ich nicht so tun will, als gäbe es sie nicht). Letztlich habe ich alles, was ich wissen wollte, in einem Atikel gefunden, den ich der Einfachheit halber hier ausführlich zitiere. Hervorhebungen und Kommentare in eckigen Klammern sind von mir.

Zum Einsatz von Testosteron bei depressiven Symptomen:

Da Testosteron sowohl die Gemütslage als auch das Appetenzverhalten beeinflusst, ist der Zusammenhang zwischen dem Steroidhormon und dem Auftreten von Depressionen seit einigen Jahren ein viel diskutierter Aspekt in der Forschung. […]

[…]

Eine Testosterontherapie führt bei hypogonadalen Männern [meint Männer mit zu niedrigem Testosterronspiegel] zur Linderung zahlreicher Beschwerden – auch eventuell vorliegende depressive Verstimmungen werden häufig reduziert. Der Einsatz von Testosteron im Rahmen einer antidepressiven Therapie wird jedoch in keiner Leitlinie empfohlen. [warum?] […]

[…]

Eine kürzlich veröffentlichte systematische Metaanalyse von Walther, Breidenstein und Miller gibt nun erneut Hinweise auf einen Nutzen. [3]

Im Rahmen der Metaanalyse wurden Daten aus 27 ausschließlich randomisierten, Placebo-kontrollierten Studien und von insgesamt 1.890 hypo- und eugonadalen Männern zwischen 40 und 80 Jahren analysiert. Grundlegend für die Studien war, dass die Bewertung des Schweregrades der depressiven Störung, sowohl vor als auch nach der Testosteron-Behandlung, durch ein validiertes psychometrisches Verfahren erfolgt sein musste. [3]

Die Auswertung zeigt, dass eine Behandlung mit Testosteron wirksam und effizient depressive Symptome reduzieren konnte. Im Vergleich zu Männern unter Placebo verringerten sich die depressiven Symptome bei Männern unter einer Testosterontherapie signifikant (p < 0,001) [p < 0,001 bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der beobachtete Unterschied zufällig ist, weniger als 0,1% beträgt]. [3] Allerdings musste das Testosteron für eine wirksame Reduktion depressiver Symptome bei hypo- bzw. eugonadalen und sowohl jüngeren (< 60 Jahre) als auch älteren Männern (> 60 Jahre) ausreichend hoch dosiert sein (> 500 mg/Woche). [3]

https://www.hormonspezialisten.de/artikel/hormonitor/
testosterontherapie-kann-depression-lindern
Link leider defekt (Update 9.4.2024)

Original-Studie: https://www.researchgate.net/publication/328942799_Association_of_Testosterone_Treatment_With_Alleviation_of_Depressive_Symptoms_in_Men_A_Systematic_Review_and_Meta-analysis

Klingt in meinen Ohren wie ein Grund zur Hoffnung. Leider ist mein nächster Nachsorgetermin noch etwas hin, aber da werde ich definiert nachfragen, wie es mit Testosteron für mich aussieht. Haben wollen!

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Update (9.4.2024): In Vorbereitung auf meinen Arztbesuch in 6 Tagen habe ich noch einmal die Studie anschauen wollen und dabei festgestellt, dass der Link zum Orginalartikel nicht mehr funzt. Dann müsst Ihr mir halt glauben, dass das da so stand, fertig. Dafür habe ich jetzt die Original-Studie verlinkt (für die, die es gerne wissenschaftlich und englisch haben).

Dafür habe ich Antwort auf die Frage gefunden, warum eine Testosteron-Behandlung noch nicht in den Leitlinien zur Depressionsbehandlung zu finden ist. Im Rahmen einer eher kritischen Vorstellung der Studie kommentiert Dr. med. David Herzog:
„Die geringe Effektstärke dieser Behandlungsoption und die weiterhin unzureichende Evidenzlage der Verträglichkeit und Sicherheit – insbesondere in Bezug auf kardiovaskuläre Ereignisse – lassen eine generelle Empfehlung oder Aufnahme in die Depressions-Leitlinie nicht zu. Hier sind große klinische Studien von hoher Qualität notwendig.“

https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s15005-019-0151-x.pdf

Okay, kardiovaskuläre, meint das Herz-Kreislauf-System betreffende Risiken sind bei mir zu bedenken. Zwei Stents und das Aortenaneurysma gieren geradezu nach Aufmerksamkeit. Aber weil das nicht nur mich betrifft, gibt es auch hierzu (mindestens) eine Studie

„In einer multizentrischen, randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten und nicht unterlegenen [?] Studie haben wir 5246 Männer [mit Vorerkrankungen] im Alter von 45 bis 80 Jahren untersucht. […]

Schlussfolgerungen: Bei Männern mit Hypogonadismus und bereits bestehenden oder einem hohen Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen war die Testosteronersatztherapie im Hinblick auf das Auftreten größerer unerwünschter kardialer Ereignisse dem Placebo nicht unterlegen.“

https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/37326322/
übersetzt mit DeepL

Das ist nun vermutlich nicht die „große klinische Studie von hoher Qualitä, auf die weiter oben gewartet wird, aber mir genügt das, um an meinem Wunsch nach einer Testosteronersatzbehandlung festzuhalten.

Update (16.4.2024): Gestern also mein Nachsorgetermin. Es gibt kein Testosteron und auch eine Begründung dafür. Zunächst, mein Testosteronspiegel ist okay (oder war es zumindest bei der letzten Messung vor einem halben Jahr), ein Mangel liegt also nicht vor. Zum zweiten wächst mit der Gabe von Testosteron die Wahrscheinlichkeit der Metastasenbildung. Das will niemand, auch ich nicht.

Unnötig zu sagen, dass ich unzufrieden bin. Aus Gründen, die überwiegend mit meinem In-der-Welt-sein zu tun haben. Zum einen glaube ich grundsätzlich ja nichts einfach so, es sei denn, es entspricht meinen Wünschen. Zum anderen – unter der optimistischen Annahme, dass die obigen Aussage onkologisch (meint: die Entstehung, Entwicklung und Behandlung von Tumorerkrankungen betreffend) richtig ist – mir etwas sinnvollerweise, aber dennoch verweigert wird und ich keine Möglichkeit habe, mich darüber hinwegzusetzen. Mir fehlt die Freiheit das Falsche zu tun, auch wenn ich es vermutlich, nach langer und vor allem eigener Abwägung, nicht täte.

Nur zur Wiederherstellung meines inneren Gleichgewichts: Kennt jemand jemanden, der verschreibungspflichtige Medikamente besorgen kann? Ich frage für einen Freund.

Jahresrückblick 2023

Die Idee hinter dem vorgezogenen Jahrerückblich war, Euch die wenig unterhaltsame Schilderung der Jahresendzeitdepression gleich zu Beginn des Beitrags zu ersparen. Das wird zumindest in diesem Jahr nicht gelingen, zum einen weil ich hier, entgegen der behaupten Absicht, gleich mal damit einsteige, dass ich anscheinend in diesem Jahr meine Jahresendzeitdepression deutlich vorziehe. Mein gegenwärtiges Aktionslevel ist niederschmetternd niedrig.

Und genug davon, Ende des depressionsbezogenen Klagens.

Zum anderen wird es hier wenig unterhaltsam, weil das Jahr es nicht war, so gar nicht. Im Fogenden wird das unangenehm deutlich und selten war ich so unsicher, ob ich einen Text veröffentlichen sollte.  Den Ausschlag zur Veröffentlichung gab letztendlich so etwas wie der Wunsch nach Vollständigkeit, es wäre doch schade, wenn im Sammelalbum meines Lebens ein paar entscheidende Kapitel fehlen. Auch wenn sie etwas dunkel sind. Da müssen wir halt gemeinsam durch.

Zur Erinnerung, der letzte Jahresüberblick endet mit mir in der Strahlentherapie, vorsichtig optimistisch in Bezug auf die bevorstehende Heilung und die unvermeidlichen Nebenwirkungen. Womit ich, Spoiler, durchaus richtig lag, wie die regelmäßigen Kontrolluntersuchungen zeigen. Dennoch, der Dezember des Jahre 2022 hat mich zerlegt (nachzulesen hier), danach lag ich ein paar Monate in Teilen herum und  habe mich bis heute nur unvollkommen wieder zusammengesetzt. Weniger dramatisch ausgedrückt bin ich vielleicht einfach nur in meinem wahren Alter angekommen und all die Jahre davor, in denen ich mich überwiegend gesund und vergleichsweise jung fühlte, waren das Geschenk eines günstigen Schicksals, guten Karmas oder guter Gene.

Im Januar finde ich mich also in der Reha zur Prostatakrebs-Bestrahlung wieder, die nun aber auch die Folgen eines Herzinfarkts und zweier Stent-Operationen lindern soll. Wie gut das gelingt, will ich nicht beurteilen, denn drei andere Themen drängen sich tageweise und mit wechselnder Intensität in den Vordergrund. Später werde ich noch darauf eingehen, als Psycho-Themen ziehen sie sich durch den Rest des Jahres, Kraft gesaugt haben sie während der Reha sehr, möglicherweise auch deren Erfolg beeinträchtigt.

Um die Hardware-Schäden schnell abzuhandeln, Prostata und Herz werden regelmäßg von Spezialisten gecheckt und alles ist in einem erwartbaren Rahmen. Dennoch ist meine Leistungsfähigkeit gegenüber dem Vorjahr eingeschränkt und es fühlt sich so an, als würde das auch so bleiben beziehungsweise altersbedingt  abnehmen. Bei den Hardware-Schäden mitzudenken ist immer auch die Gehbehinderung durch den Archillessehnenriss links. Ich komme nur deshalb bei schnellem Laufen nicht außer Atem, weil ich gar nicht schnell laufen kann. In der Folge, vermute ich, wird auch das rechte Bein nicht ausreichend trainiert, seit dem Oberschenkelbruch vor rund zwei Jahren ist es deutlich weniger belastbar. Aber, trotz aller Einschränkungen, noch geht alles alleine und das aufzuschreiben ist schon ein erster Hinweis darauf, dass die Gedanken schon manchmal bei einer Zeit sind, in der das nicht mehr so sein wird.

Die Hardware zeigt also deutliche Abnutzungserscheinungen. Damit nicht genug, die Software ist ebenfalls ziemlich buggy. Als Meister der subtilen Überleitung komme mit dieser flappsigen Bemerkung zu den bereits angekündigten ganz und gar nicht flappsigen Psycho-Themen, denn die sind letztlich alle nur Variationen eines großen Themas, dem Sterben.

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Anlass, sich über das Sterben Gedanken zu machen, gab es genug. Als Helen Anfang Dezember starb, kam das für den Rest der Familie gänzlich unerwartet.  Wie um zu beweisen, dass auch ich „unerwartet“ kann, bekomme ich zwei Tage später einen Herzinfarkt und drei Tage später einen Stent gesetzt, die Strahlenbehandlung muss ich während der kurzen Nach-Überwachungszeit nicht unterbrechen, sie findet im gleichen Krankenhaus nur drei Stockwerke tiefer statt. Als Unterstützung für die Kinder, unsere gemeinsamen, nun erwachsenen Kinder, falle ich komplett aus, selbst meine eigene Trauer ist mir in dieser ersten Zeit nach ihrem Tod nicht zugänglich. Zu beansprucht bin ich von Strahlenbehandlung und physischem Herzleid, alles was ich möchte ist dasitzen, vor mich hin schauen und heilen.

Tatsächlich komme ich erst sehr viel später im Jahr dazu, meiner Trauer etwas mehr nachzuspüren, sie zu empfinden und zu durchleben. Im August besuche ich meinen Sohn und dessen Familie in Hamburg, wo auch Helen lebte. Im Rahmen dieses Besuchs schauen wir viele Bilder von Helen an, sprechen über sie und besuchen auch ihr Grab. Würde sie leben, hätten wir uns in diesen Tagen sicherlich getroffen; erstmals wird ihr Fehlen „wirklich“.

Wieder zuhause besucht mich meine Tochter für ein paar Tage, auch sie hat Fotos, Erinnerungsstücke und Fragen zu Helen im Gepäck. In den Gesprächen mit ihr bemerke ich in mir einen Differenzierungsprozeß, Trauer hat verschiedene Seiten, kommt mal tränenreich sentimental daher, mal resignativ bedauernd, manchmal mit Beimischungen früherer, auch schwieriger Gefühle ihr gegenüber. Alte Liebe und alte Kränkung kommen Hand in Hand. Ungelebte Chancen zeigen sich im Rückblick genauso klar wie unerfüllbare Erwartungen.

Vor wenigen Tagen wäre Helens 63. Geburtstag gewesen und bildete den Anlass, in Gedanken für einige Zeit bei ihr zu sein. Noch immer gibt es neue Facetten in diesem Gedenken, dennoch, es fühlt sich an, als sei zuende getrauert. Sie fehlt, aber ihr Fehlen schmerzt nicht mehr.

Ein anderes Ergebnis des Tochterbesuchs: es gibt jetzt endlich eine Patientenverfügung. Nach einer über einjährigen Pause, in der „eigentlich“ schon alles vorbereitet und vorgedacht war, es fehlte wirklich nur noch die Umsetzung  (ein paar Haken im Onlineformular, ausdrucken, unterschreiben) und – hier Auftritt der Tochter – jemand, dem die Aktion wichtig ist. War sie ihr, es gab eine dringende Bitte zum Termin X …, und done! Es kann so einfach sein.

Wie überhaupt, schon während des Jahres hatten wir verschiedene Telefongespräche, in denen wir durchgingen, was so alles schwierig werden kann, wenn ein nahestehender Mensch stirbt; meint: ich. Dabei hatten wir durchaus unsere emotionalen Momente, sind aber auch in der Sache vorangekommen. Meine wesentlichen Wünsche sind mitgeteilt. In Stichworten: Feuerbestattung, Friedwald, Erbverteilung. Selbst so praktische Dinge wie der Geräte- und Kontenzugang, jeweils off- und online, wurden besprochen. Mit all dem bin ich sehr zufrieden, solche Gespräche nehmen die Schwere aus dem Thema und führen zur Akzeptanz. Drüber reden hilft, selbst beim Sterben.

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Ein weiteres großes Thema war die Demenz meiner Mutter, die mir wie eine unnötig in die Länge gezogene Variation des Sterbens vorkommt. Was ich so nicht schreiben würde, wenn ich nicht irgendwann bei mir bemerkt hätte, dass ich um sie trauerte. Vergangenheitsform, der Zustand dauerte nicht lange an und fiel in die Zeit der Reha, in der ohnehin alles geballt stattfand, was ich Euch hier halbwegs sortiert erzähle. Es war, es ist, als sei sie gestorben.

Mich in ihre Demenz einzufühlen gelingt mir nicht. Zumindest nicht im Sinne eines Mit-Leidens, auch hier eher abstrakt und, nun, wertend. Demenz ist der ultimative Move aus der Auseinandersetzung und der Beziehung heraus, hinein in eine Welt, die nur ihrer Interpretation folgt. Was wahr und was erfunden ist, kann und muss nicht mehr unterschieden werden. Sie hätte dies Unschärfe auch wesentlich früher in ihrem Leben zu schätzen gewußt.

Die Demenz meiner Mutter wurde lange nicht erkannt, vielleicht auch nur verleugnet. Anfang des Jahre wurde deutlich, dass sie nicht mehr alleine in ihrer Wohnung sein könnte. Da die Beziehung zu meiner Mutter immer schwierig und niemals wirklich liebevoll war, war ich nicht bereit, die Verantwortung für sie zu übernehmen und bestand darauf, dass ein gesetzlicher Betreuer eingesetzt werden müsste. Bis zur Benennung einer Betreuerin dauerte es mehrere Monate, in dieser Zeit blieb ich gezwungenermaßen Ansprechpartner Nummer Eins für Nachfragen bezüglich ihres Verbleibs, die ich regelmässig nicht beantworten konnte.  Schmerzhaft deutlich wird auch, wie dysfunktional die Restfamilie ist, der Umgang miteinander ist – in der schwächstmöglichen Formulierung – unfreundlich und kontraproduktiv. Die Auseinandersetzung damit verschwendet unnötig viel Kraft, die ich an anderen Stellen sehr gebrauchen könnte.

Mir, und auch der irgendwann dann eingesetzten gesetzlichen Betreuerin, war von Beginn der Misere an klar, dass Mutters Wohnung aufgelöst und verkauft werden müsste. Insgesamt dreimal war ich, zum Teil mehrere Tage, in der Wohnung um Papiere zu sichten und Erinnerungsstücke zu entnehmen. Jeder dieser Besuche brachte Photoalben oder Schriftstücke zutage, die bewahrenswert sind. Insbesondere beim letzten Besuch, gemeinsam mit meiner Tochter, fanden wir nochmals alte Urkunden aus einer Zeit, als meine Mutter genealogische Nachforschungen betrieben hat. Im Ergebnis habe ich nun Kisten voller Zeugs bei mir herumstehen, von dem ich nicht weiß, wohin ich damit soll. Vieles davon könnte digitalisiert werden, ich habe auch schon damit begonnen, letztlich ist das aber aufwändiger, als ich zunächst dachte. Seit mehreren Wochen (hoch einstellig) steht das Zeug nun unangetastet herum und wartet auf weitere Entscheidungen meinerseits.

Emotionen bezüglich meiner Mutter sind mir kaum zugänglich, vielleicht auch wirklich nicht vorhanden. Ins Leiden kam ich immer nur, wenn von außen die Erwartung an mich herangetragen wurde, dass ich etwas für sie zu fühlen und in der Folge auch zu entscheiden hätte. Seitdem die gesetzliche Betreuerin eingesetzt ist und ich meine Mutter gut untergebracht weiß, beschäftigt sie mich wenig. Oder nur auf eine sehr abstrakte Weise. Ich schaue mir die Fotos aus der Zeit an, als ich noch nicht geboren war, und habe Phantasien darüber, wer diese Elternmenschen waren, damals. Oder spätere Fotos, die den Übergang in eine Zeit zeigen, die ich irgendwann dann auch miterlebte. Nachfragen kann ich nichts mehr, ich bin ganz frei, mir Geschichten auszudenken.

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Mir ist danach, den Text an dieser Stelle kurz zu unterbrechen. Schon jetzt ist dieser Jahresrückblick nicht unbedingt ein Gute-Laune-Text, aber ab hier wird es düster. Empathiebegabte Menschen werden nach dem Lesen traurig sein. Ganz ehrlich, Ihr müsst Euch das nicht geben. Wenn Alter, Krankheit und Tod gerade nicht in Euren Tag passen, dann solltet Ihr jetzt aufhören zu lesen und später wiederkommen. Oder gar nicht. Aber natürlich könnt Ihr auch einfach Jahresrückblick 2023 weiterlesen

Kleine Dosen im Selbstversuch

Montag, 22.5.2023, 1. Tag, 1. Woche
Ich habe mich entschlossen, zur Besserung meiner Depression ein Experiment mit Microdosing  zu unternehmen und den Verlauf zu dokumentieren. Wie man auf so etwas kommen kann, findet ihr hier mit weiterführenden Links ausführlich beschrieben.

Beginnend heute werde ich die nächsten sechseinhalb Wochen jeweils an den ersten drei Wochentage 0,75 Gramm psylocibinhaltiger „Truffel“ zu mir nehmen. Truffel darf man in den Niederlanden legal verkaufen, kaufen und verwenden. Verkauft wird in Packungen a 15 Gramm, das sind dann jeweils 1 bis 2 wirksame Dosen. Die von mir eingenommene Menge entspricht also weniger als einem Zehntel der wirksamen Dosierung für einen milden Rausch. Das ist Absicht, deswegen das Micro vor dem Dosing. Händler verkaufen auch fertig abgewogene Portionen für das Microdosing, die haben dann jeweils genau ein Gramm, ich werde auf die alten Tage also vorsichtig und konservativ.

Die erste Einnahme dehne ich über mehrere Stunden, aus unklaren Gründen habe ich einen schlechten Geschmack erwartet, aber das Zeug schmeckt kaum nach irgendetwas, womit ich es vergleichen könnte. Keine besonderen Vorkommnisse.

2. Tag
Keine besonderen Vorkommnisse.

3. Tag
Gedanken zur Ergebniserhebung, woran würde ich bemerken, dass eine Wirkung eintritt? Ich brauche ein Bewertungsschema für Tagesbefindlichkeiten! Aktiv gewesen, länger als gestern, kürzer als aus anderen Jahren gewohnt.

2. Woche, 4. Tag
Ersteinmal die montägliche Einnahme verpasst, neben allen anderen Medikamenten, ich war abgelenkt, die meiste Zeit des Tages. Ich verschiebe auf Dienstag. Das funktierniert dann ungestört. Ich teile die Microdosis nochmal auf zwei Einnahmen über den Tag verteilt, das werde ich diese Woche auch beibehalten. KbV, aber ich bin aktiv, naja, aktiver als meistens in der letzten Zeit, immer noch nicht aktiv-aktiv.

5. Tag
Lustlos, aber aktiv.

6. Tag
Weil ich abgelenkt bin, vergesse ich die Medikamenteneinnahme während des Tages komplett, die Medis werfe ich abends alle zusammen ein, die Microdosis verschiebe ich auf den nächsten Tag. KbV.

3. Woche, 7. bis 9. Tag
Die Einnahme der Microdosis nun auf einmal. Das langsame Hochdosieren war eine Vorsichtsmaßnahme, wie erwartet und gewünscht ist kein Unterschied zu irgendeiner Version meines Alltags zu spüren. Zugleich ist es die erste Woche, in der ich mich fühle, wie ich mich „immer“ im Sommer fühle: gerade aktiv genug, um Spass daran zu haben und Erfolgserlebnisse zu generieren (Schüttung).

Was zugleich aber das Hauptproblem meiner kleinen „Studie“ ist, sie ist keine. Begründung später. [Geschmack und Verderbnis]

So nicht!

4. Woche, 10. bis 12. Tag
Sommerlich aktiv, keine Besonderheiten. Ich bemerke am 12. Tag, dass alle abgepacken Portionen in ihren Tütchen angefangen haben, zu schimmeln (oder irgenetwas anderes, was Pilze halt so tun). Streng genommen ist dies die erste wirkliche Erkenntnis aus meinem Experiment, so geht es nicht! Wir lernen, was wir vorher schon wussten: eigene Versuche schaffen Prozesswissen, das es nicht zu lesen gibt.

5. Woche, 13. und letzter Tag dieses Versuchs
Eine Mikrodosis konnte ich noch retten, auch wenn sie schon deutlich schimmelig geschmeckt hat. Und Schluß.

<O>

Was hat’s gebracht?
Danke, dass Sie fragen, das ist eine sehr gute Frage! Trauriger Fakt ist, dass ich es nicht weiß. Jede Stimmungsaufhellung in der betreffenden Zeit könnte auch einfach der beginnenden Heißzeit zuzuordnen sein. Falls es wer nicht weiß, ich brauche zur bestimmungsmäßigen Funktion eine gewisse Betriebstemperatur, die in unseren Breitengraden nur in den Sommermonaten erreicht wird. Gerade geht es mir gut, weil es mir sowieso gut gehen würde.

Insgesamt ist also das Ergebnis weniger deutlich, als bei meinen anderen Depressionsabhilfen, den Serotoninwiederaufnahmehemmern und dem Laufen. Das ist es, was ich jedem mitgeben möchte, der sich vielleicht aus eigener Betroffenheit bis hierher durch den Text gequält hat und bisher genau nichts erfahren hat.

Laufen hilft schnell und deutlich, ein trüber, lustloser Tag fühlt sich nach fünf bis zehn Kilometer Strecke vollkommen anders – besser – an. Wer es packt, sich vor dem Lauf durch die schlechte Stimmung nicht aufhalten zu lassen, hat gewonnen.

Die Serotoninwiederaufnahmehemmer sind schwieriger zu beurteilen, ich würde dazu neigen ihnen keine (!) Wirkung zuzuschreiben, wenn es nicht ein paar Indizien gäbe, dass sie zumindest irgenetwas tun. Während der Einnahme habe ich zweimal Spontankäufe im dreistelligen Bereich getätigt, das ist ansonsten außerhalb der Möglichkeiten meines Naturells. Und – vielleicht wichtiger – ich habe während der Einnahme mit dem Laufen angefangen, auch das etwas, was zuvor nicht zu erwarten gewesen wäre. Eher im Gegenteil, ich habe mich zuvor über Läufer eher lustig gemacht. Abgesetzt habe ich die Medis jeweils, weil ich fast schon körperliche Widerstände gegen die Einnahme entwickelte. Ich mochte sie auf eine sehr entschiedene Weise nicht mehr.

Abschließend: Wenn ich könnte (was ich nicht kann), würde ich laufen (Empfehlung!). Wenn’s legal wäre (was es nicht ist), würde ich mit Pilzen und LSD experimentiernen (gerne auch unter Begleitung mit höheren Dosen). Weil ich’s kann und es legal ist, würde ich notfalls auch Serotoninwiederaufnahmehemmer nehmen. Nur, so nötig habe ich es noch nicht.