Jahresrückblick 2023

Die Idee hinter dem vorgezogenen Jahrerückblich war, Euch die wenig unterhaltsame Schilderung der Jahresendzeitdepression gleich zu Beginn des Beitrags zu ersparen. Das wird zumindest in diesem Jahr nicht gelingen, zum einen weil ich hier, entgegen der behaupten Absicht, gleich mal damit einsteige, dass ich anscheinend in diesem Jahr meine Jahresendzeitdepression deutlich vorziehe. Mein gegenwärtiges Aktionslevel ist niederschmetternd niedrig.

Und genug davon, Ende des depressionsbezogenen Klagens.

Zum anderen wird es hier wenig unterhaltsam, weil das Jahr es nicht war, so gar nicht. Im Fogenden wird das unangenehm deutlich und selten war ich so unsicher, ob ich einen Text veröffentlichen sollte.  Den Ausschlag zur Veröffentlichung gab letztendlich so etwas wie der Wunsch nach Vollständigkeit, es wäre doch schade, wenn im Sammelalbum meines Lebens ein paar entscheidende Kapitel fehlen. Auch wenn sie etwas dunkel sind. Da müssen wir halt gemeinsam durch.

Zur Erinnerung, der letzte Jahresüberblick endet mit mir in der Strahlentherapie, vorsichtig optimistisch in Bezug auf die bevorstehende Heilung und die unvermeidlichen Nebenwirkungen. Womit ich, Spoiler, durchaus richtig lag, wie die regelmäßigen Kontrolluntersuchungen zeigen. Dennoch, der Dezember des Jahre 2022 hat mich zerlegt (nachzulesen hier), danach lag ich ein paar Monate in Teilen herum und  habe mich bis heute nur unvollkommen wieder zusammengesetzt. Weniger dramatisch ausgedrückt bin ich vielleicht einfach nur in meinem wahren Alter angekommen und all die Jahre davor, in denen ich mich überwiegend gesund und vergleichsweise jung fühlte, waren das Geschenk eines günstigen Schicksals, guten Karmas oder guter Gene.

Im Januar finde ich mich also in der Reha zur Prostatakrebs-Bestrahlung wieder, die nun aber auch die Folgen eines Herzinfarkts und zweier Stent-Operationen lindern soll. Wie gut das gelingt, will ich nicht beurteilen, denn drei andere Themen drängen sich tageweise und mit wechselnder Intensität in den Vordergrund. Später werde ich noch darauf eingehen, als Psycho-Themen ziehen sie sich durch den Rest des Jahres, Kraft gesaugt haben sie während der Reha sehr, möglicherweise auch deren Erfolg beeinträchtigt.

Um die Hardware-Schäden schnell abzuhandeln, Prostata und Herz werden regelmäßg von Spezialisten gecheckt und alles ist in einem erwartbaren Rahmen. Dennoch ist meine Leistungsfähigkeit gegenüber dem Vorjahr eingeschränkt und es fühlt sich so an, als würde das auch so bleiben beziehungsweise altersbedingt  abnehmen. Bei den Hardware-Schäden mitzudenken ist immer auch die Gehbehinderung durch den Archillessehnenriss links. Ich komme nur deshalb bei schnellem Laufen nicht außer Atem, weil ich gar nicht schnell laufen kann. In der Folge, vermute ich, wird auch das rechte Bein nicht ausreichend trainiert, seit dem Oberschenkelbruch vor rund zwei Jahren ist es deutlich weniger belastbar. Aber, trotz aller Einschränkungen, noch geht alles alleine und das aufzuschreiben ist schon ein erster Hinweis darauf, dass die Gedanken schon manchmal bei einer Zeit sind, in der das nicht mehr so sein wird.

Die Hardware zeigt also deutliche Abnutzungserscheinungen. Damit nicht genug, die Software ist ebenfalls ziemlich buggy. Als Meister der subtilen Überleitung komme mit dieser flappsigen Bemerkung zu den bereits angekündigten ganz und gar nicht flappsigen Psycho-Themen, denn die sind letztlich alle nur Variationen eines großen Themas, dem Sterben.

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Anlass, sich über das Sterben Gedanken zu machen, gab es genug. Als Helen Anfang Dezember starb, kam das für den Rest der Familie gänzlich unerwartet.  Wie um zu beweisen, dass auch ich „unerwartet“ kann, bekomme ich zwei Tage später einen Herzinfarkt und drei Tage später einen Stent gesetzt, die Strahlenbehandlung muss ich während der kurzen Nach-Überwachungszeit nicht unterbrechen, sie findet im gleichen Krankenhaus nur drei Stockwerke tiefer statt. Als Unterstützung für die Kinder, unsere gemeinsamen, nun erwachsenen Kinder, falle ich komplett aus, selbst meine eigene Trauer ist mir in dieser ersten Zeit nach ihrem Tod nicht zugänglich. Zu beansprucht bin ich von Strahlenbehandlung und physischem Herzleid, alles was ich möchte ist dasitzen, vor mich hin schauen und heilen.

Tatsächlich komme ich erst sehr viel später im Jahr dazu, meiner Trauer etwas mehr nachzuspüren, sie zu empfinden und zu durchleben. Im August besuche ich meinen Sohn und dessen Familie in Hamburg, wo auch Helen lebte. Im Rahmen dieses Besuchs schauen wir viele Bilder von Helen an, sprechen über sie und besuchen auch ihr Grab. Würde sie leben, hätten wir uns in diesen Tagen sicherlich getroffen; erstmals wird ihr Fehlen „wirklich“.

Wieder zuhause besucht mich meine Tochter für ein paar Tage, auch sie hat Fotos, Erinnerungsstücke und Fragen zu Helen im Gepäck. In den Gesprächen mit ihr bemerke ich in mir einen Differenzierungsprozeß, Trauer hat verschiedene Seiten, kommt mal tränenreich sentimental daher, mal resignativ bedauernd, manchmal mit Beimischungen früherer, auch schwieriger Gefühle ihr gegenüber. Alte Liebe und alte Kränkung kommen Hand in Hand. Ungelebte Chancen zeigen sich im Rückblick genauso klar wie unerfüllbare Erwartungen.

Vor wenigen Tagen wäre Helens 63. Geburtstag gewesen und bildete den Anlass, in Gedanken für einige Zeit bei ihr zu sein. Noch immer gibt es neue Facetten in diesem Gedenken, dennoch, es fühlt sich an, als sei zuende getrauert. Sie fehlt, aber ihr Fehlen schmerzt nicht mehr.

Ein anderes Ergebnis des Tochterbesuchs: es gibt jetzt endlich eine Patientenverfügung. Nach einer über einjährigen Pause, in der „eigentlich“ schon alles vorbereitet und vorgedacht war, es fehlte wirklich nur noch die Umsetzung  (ein paar Haken im Onlineformular, ausdrucken, unterschreiben) und – hier Auftritt der Tochter – jemand, dem die Aktion wichtig ist. War sie ihr, es gab eine dringende Bitte zum Termin X …, und done! Es kann so einfach sein.

Wie überhaupt, schon während des Jahres hatten wir verschiedene Telefongespräche, in denen wir durchgingen, was so alles schwierig werden kann, wenn ein nahestehender Mensch stirbt; meint: ich. Dabei hatten wir durchaus unsere emotionalen Momente, sind aber auch in der Sache vorangekommen. Meine wesentlichen Wünsche sind mitgeteilt. In Stichworten: Feuerbestattung, Friedwald, Erbverteilung. Selbst so praktische Dinge wie der Geräte- und Kontenzugang, jeweils off- und online, wurden besprochen. Mit all dem bin ich sehr zufrieden, solche Gespräche nehmen die Schwere aus dem Thema und führen zur Akzeptanz. Drüber reden hilft, selbst beim Sterben.

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Ein weiteres großes Thema war die Demenz meiner Mutter, die mir wie eine unnötig in die Länge gezogene Variation des Sterbens vorkommt. Was ich so nicht schreiben würde, wenn ich nicht irgendwann bei mir bemerkt hätte, dass ich um sie trauerte. Vergangenheitsform, der Zustand dauerte nicht lange an und fiel in die Zeit der Reha, in der ohnehin alles geballt stattfand, was ich Euch hier halbwegs sortiert erzähle. Es war, es ist, als sei sie gestorben.

Mich in ihre Demenz einzufühlen gelingt mir nicht. Zumindest nicht im Sinne eines Mit-Leidens, auch hier eher abstrakt und, nun, wertend. Demenz ist der ultimative Move aus der Auseinandersetzung und der Beziehung heraus, hinein in eine Welt, die nur ihrer Interpretation folgt. Was wahr und was erfunden ist, kann und muss nicht mehr unterschieden werden. Sie hätte dies Unschärfe auch wesentlich früher in ihrem Leben zu schätzen gewußt.

Die Demenz meiner Mutter wurde lange nicht erkannt, vielleicht auch nur verleugnet. Anfang des Jahre wurde deutlich, dass sie nicht mehr alleine in ihrer Wohnung sein könnte. Da die Beziehung zu meiner Mutter immer schwierig und niemals wirklich liebevoll war, war ich nicht bereit, die Verantwortung für sie zu übernehmen und bestand darauf, dass ein gesetzlicher Betreuer eingesetzt werden müsste. Bis zur Benennung einer Betreuerin dauerte es mehrere Monate, in dieser Zeit blieb ich gezwungenermaßen Ansprechpartner Nummer Eins für Nachfragen bezüglich ihres Verbleibs, die ich regelmässig nicht beantworten konnte.  Schmerzhaft deutlich wird auch, wie dysfunktional die Restfamilie ist, der Umgang miteinander ist – in der schwächstmöglichen Formulierung – unfreundlich und kontraproduktiv. Die Auseinandersetzung damit verschwendet unnötig viel Kraft, die ich an anderen Stellen sehr gebrauchen könnte.

Mir, und auch der irgendwann dann eingesetzten gesetzlichen Betreuerin, war von Beginn der Misere an klar, dass Mutters Wohnung aufgelöst und verkauft werden müsste. Insgesamt dreimal war ich, zum Teil mehrere Tage, in der Wohnung um Papiere zu sichten und Erinnerungsstücke zu entnehmen. Jeder dieser Besuche brachte Photoalben oder Schriftstücke zutage, die bewahrenswert sind. Insbesondere beim letzten Besuch, gemeinsam mit meiner Tochter, fanden wir nochmals alte Urkunden aus einer Zeit, als meine Mutter genealogische Nachforschungen betrieben hat. Im Ergebnis habe ich nun Kisten voller Zeugs bei mir herumstehen, von dem ich nicht weiß, wohin ich damit soll. Vieles davon könnte digitalisiert werden, ich habe auch schon damit begonnen, letztlich ist das aber aufwändiger, als ich zunächst dachte. Seit mehreren Wochen (hoch einstellig) steht das Zeug nun unangetastet herum und wartet auf weitere Entscheidungen meinerseits.

Emotionen bezüglich meiner Mutter sind mir kaum zugänglich, vielleicht auch wirklich nicht vorhanden. Ins Leiden kam ich immer nur, wenn von außen die Erwartung an mich herangetragen wurde, dass ich etwas für sie zu fühlen und in der Folge auch zu entscheiden hätte. Seitdem die gesetzliche Betreuerin eingesetzt ist und ich meine Mutter gut untergebracht weiß, beschäftigt sie mich wenig. Oder nur auf eine sehr abstrakte Weise. Ich schaue mir die Fotos aus der Zeit an, als ich noch nicht geboren war, und habe Phantasien darüber, wer diese Elternmenschen waren, damals. Oder spätere Fotos, die den Übergang in eine Zeit zeigen, die ich irgendwann dann auch miterlebte. Nachfragen kann ich nichts mehr, ich bin ganz frei, mir Geschichten auszudenken.

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Mir ist danach, den Text an dieser Stelle kurz zu unterbrechen. Schon jetzt ist dieser Jahresrückblick nicht unbedingt ein Gute-Laune-Text, aber ab hier wird es düster. Empathiebegabte Menschen werden nach dem Lesen traurig sein. Ganz ehrlich, Ihr müsst Euch das nicht geben. Wenn Alter, Krankheit und Tod gerade nicht in Euren Tag passen, dann solltet Ihr jetzt aufhören zu lesen und später wiederkommen. Oder gar nicht. Aber natürlich könnt Ihr auch einfach Jahresrückblick 2023 weiterlesen

Kleine Dosen im Selbstversuch

Montag, 22.5.2023, 1. Tag, 1. Woche
Ich habe mich entschlossen, zur Besserung meiner Depression ein Experiment mit Microdosing  zu unternehmen und den Verlauf zu dokumentieren. Wie man auf so etwas kommen kann, findet ihr hier mit weiterführenden Links ausführlich beschrieben.

Beginnend heute werde ich die nächsten sechseinhalb Wochen jeweils an den ersten drei Wochentage 0,75 Gramm psylocibinhaltiger „Truffel“ zu mir nehmen. Truffel darf man in den Niederlanden legal verkaufen, kaufen und verwenden. Verkauft wird in Packungen a 15 Gramm, das sind dann jeweils 1 bis 2 wirksame Dosen. Die von mir eingenommene Menge entspricht also weniger als einem Zehntel der wirksamen Dosierung für einen milden Rausch. Das ist Absicht, deswegen das Micro vor dem Dosing. Händler verkaufen auch fertig abgewogene Portionen für das Microdosing, die haben dann jeweils genau ein Gramm, ich werde auf die alten Tage also vorsichtig und konservativ.

Die erste Einnahme dehne ich über mehrere Stunden, aus unklaren Gründen habe ich einen schlechten Geschmack erwartet, aber das Zeug schmeckt kaum nach irgendetwas, womit ich es vergleichen könnte. Keine besonderen Vorkommnisse.

2. Tag
Keine besonderen Vorkommnisse.

3. Tag
Gedanken zur Ergebniserhebung, woran würde ich bemerken, dass eine Wirkung eintritt? Ich brauche ein Bewertungsschema für Tagesbefindlichkeiten! Aktiv gewesen, länger als gestern, kürzer als aus anderen Jahren gewohnt.

2. Woche, 4. Tag
Ersteinmal die montägliche Einnahme verpasst, neben allen anderen Medikamenten, ich war abgelenkt, die meiste Zeit des Tages. Ich verschiebe auf Dienstag. Das funktierniert dann ungestört. Ich teile die Microdosis nochmal auf zwei Einnahmen über den Tag verteilt, das werde ich diese Woche auch beibehalten. KbV, aber ich bin aktiv, naja, aktiver als meistens in der letzten Zeit, immer noch nicht aktiv-aktiv.

5. Tag
Lustlos, aber aktiv.

6. Tag
Weil ich abgelenkt bin, vergesse ich die Medikamenteneinnahme während des Tages komplett, die Medis werfe ich abends alle zusammen ein, die Microdosis verschiebe ich auf den nächsten Tag. KbV.

3. Woche, 7. bis 9. Tag
Die Einnahme der Microdosis nun auf einmal. Das langsame Hochdosieren war eine Vorsichtsmaßnahme, wie erwartet und gewünscht ist kein Unterschied zu irgendeiner Version meines Alltags zu spüren. Zugleich ist es die erste Woche, in der ich mich fühle, wie ich mich „immer“ im Sommer fühle: gerade aktiv genug, um Spass daran zu haben und Erfolgserlebnisse zu generieren (Schüttung).

Was zugleich aber das Hauptproblem meiner kleinen „Studie“ ist, sie ist keine. Begründung später. [Geschmack und Verderbnis]

So nicht!

4. Woche, 10. bis 12. Tag
Sommerlich aktiv, keine Besonderheiten. Ich bemerke am 12. Tag, dass alle abgepacken Portionen in ihren Tütchen angefangen haben, zu schimmeln (oder irgenetwas anderes, was Pilze halt so tun). Streng genommen ist dies die erste wirkliche Erkenntnis aus meinem Experiment, so geht es nicht! Wir lernen, was wir vorher schon wussten: eigene Versuche schaffen Prozesswissen, das es nicht zu lesen gibt.

5. Woche, 13. und letzter Tag dieses Versuchs
Eine Mikrodosis konnte ich noch retten, auch wenn sie schon deutlich schimmelig geschmeckt hat. Und Schluß.

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Was hat’s gebracht?
Danke, dass Sie fragen, das ist eine sehr gute Frage! Trauriger Fakt ist, dass ich es nicht weiß. Jede Stimmungsaufhellung in der betreffenden Zeit könnte auch einfach der beginnenden Heißzeit zuzuordnen sein. Falls es wer nicht weiß, ich brauche zur bestimmungsmäßigen Funktion eine gewisse Betriebstemperatur, die in unseren Breitengraden nur in den Sommermonaten erreicht wird. Gerade geht es mir gut, weil es mir sowieso gut gehen würde.

Insgesamt ist also das Ergebnis weniger deutlich, als bei meinen anderen Depressionsabhilfen, den Serotoninwiederaufnahmehemmern und dem Laufen. Das ist es, was ich jedem mitgeben möchte, der sich vielleicht aus eigener Betroffenheit bis hierher durch den Text gequält hat und bisher genau nichts erfahren hat.

Laufen hilft schnell und deutlich, ein trüber, lustloser Tag fühlt sich nach fünf bis zehn Kilometer Strecke vollkommen anders – besser – an. Wer es packt, sich vor dem Lauf durch die schlechte Stimmung nicht aufhalten zu lassen, hat gewonnen.

Die Serotoninwiederaufnahmehemmer sind schwieriger zu beurteilen, ich würde dazu neigen ihnen keine (!) Wirkung zuzuschreiben, wenn es nicht ein paar Indizien gäbe, dass sie zumindest irgenetwas tun. Während der Einnahme habe ich zweimal Spontankäufe im dreistelligen Bereich getätigt, das ist ansonsten außerhalb der Möglichkeiten meines Naturells. Und – vielleicht wichtiger – ich habe während der Einnahme mit dem Laufen angefangen, auch das etwas, was zuvor nicht zu erwarten gewesen wäre. Eher im Gegenteil, ich habe mich zuvor über Läufer eher lustig gemacht. Abgesetzt habe ich die Medis jeweils, weil ich fast schon körperliche Widerstände gegen die Einnahme entwickelte. Ich mochte sie auf eine sehr entschiedene Weise nicht mehr.

Abschließend: Wenn ich könnte (was ich nicht kann), würde ich laufen (Empfehlung!). Wenn’s legal wäre (was es nicht ist), würde ich mit Pilzen und LSD experimentiernen (gerne auch unter Begleitung mit höheren Dosen). Weil ich’s kann und es legal ist, würde ich notfalls auch Serotoninwiederaufnahmehemmer nehmen. Nur, so nötig habe ich es noch nicht.

 

Kleine Dosen

Auf spektrum.de gab es vor nicht allzu langer Zeit einen Übersichtsartikel zu Microdosing, meint: der regelmässigen Einnahme psychoaktiver Drogen unterhalb der Wirkschwelle. Menschen machen das zum Zwecke der Gesundung oder zur Steigerung der Leistungsfähigkeit. Zu beidem gibt es deutliche Hinweise, dass das nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Depressionen und Ängste sollen sich bessern, Konzentration und Kreativität zunehmen.

Schon einige Tage zuvor war mir das Thema im Rahmen einer Pilz-Doku („Die fantastische Welt der Pilze“ in der Mediathek) begegnet. Eine Suche im Netz bringt dann weitere Bewegtbildinhalte der öffentlich-rechtlichen Sender zutage, mal kurz, mal länglich-gesprächslastig. Und alles interessant vor allem unter einem Aspekt: der gesamtgesellschaftliche Zugang zum Thema Rauschdrogen in der Medizin scheint sich im Wandel zu befinden. Erstmals seit den 1970er Jahren gibt es wieder Forschung zum Thema und überall auf der Welt gibt es experimentelle Ansätze, Drogen in Therapien einzubeziehen.

Im Wesentlichen gibt es zwei Ansätze. Erstens werden Drogen im Rahmen eines gesicherten Settings verabreicht, der anschließende Rausch begleitet und in den Folgesitzungen aufgearbeitet. Die Anzahl der „Rausch-Sitzungen“ liegt im einstelligen Bereich. Im zweiten Ansatz werden sehr kleine Dosen psychoaktiver Drogen (deswegen Microdosing, wer hätte es gedacht) regelmäßig über einen längeren Zeitraum eingenommen. Dosierung und Einnahme liegen in der Verantwortung des Konsumenten. Dabei soll es zu keinem Zeitpunkt zu einer  Veränderung der gewohnten Wahrnehmungsweise kommen, wer einen Rausch wahrnimmt, hat zu hoch dosiert.

Klare Sache, wer als Betroffener den Trip auf Krankenschein sucht, wird ihn so schnell nicht bekommen. Zufall und Glück müssten ihn in eine der wenigen klinischen Studien oder zu einem der wenigen zugelassenen Therapie-Plätze führen. Insgesamt keine guten Erfolgsaussichten. Hat aber auch sein Gutes: wir müssen uns nicht mehr kümmern.

Eine bessere Chance bietet da Microdosing als Selbsthilfe.  Auch das ist nicht ohne jede Schwierigkeit und vermutlich taucht gelegentlich die eine oder andere Sorge auf, die dann behandelt werden will. Kurz, bevor wir zur selbsthelfenden Tat schreiten, müssen wir uns kümmern, Risiken abschätzen, Vorgehensweisen klären, viel lesen und verstehen

Wenn ihr mir bis hierher gefolgt seid empfehle ich dringend, den oben verlinkten Artikel zu lesen, jetzt. Damit wir auf dem gleichen Stand sind und ich mich darauf beziehen kann. Wenn ihr gerade keine Zeit habt, dann hört einfach auf zu lesen und kommt wieder, wenn ihr Zeit habt. Ansonsten: Jetzt.

Oder ihr macht, was ihr wollt.

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Was haben wir erfahren? Microdosing ist ein Trend, Die MD-Community ist von den positiven Effekten überzeugt. Dennoch: nichts genaues weiß man nicht. Microdosing scheint ungefährlich zu sein, im dümmsten Fall könnten wir es mit einem Placebo-Effekt zu tun haben. Andererseits lassen sich Wirkprinzipien benennen und schwache Effekte sogar messen. Weitere Forschung ist dringend notwendig.

Im Ergebnis scheint das zunächst etwas dünn. Was daran liegen könnte, dass der Artikel nah an seinem Thema, dem Microdosing, bleibt, während ein Großteil der Forschung sich auf den Einsatz wirkkräftiger Dosen im Rahmen konventioneller Therapien konzentriert (und dabei sehr viel überzeugter auftritt, gelegentlich sogar von „breakthrough therapies“ spricht).

Zurück zur Selbsthilfe. Als Depressionskandidat wäre ich verzweifelt genug, Microdosing eine Chance zu geben. Wenn ich denn nur wüßte, wie genau das eigentlich funktioniert. Das im Artikel angesprochene Reddit-Forum erweist sich als eine großartige Informationsquelle. Ich vermute ein Großteil der oben angesprochenen Sorgen und Ängste werden dort behandelt. Wie hoch ist eigentlich eine Micro-Dose? Welches Einnahme-Schemata gibt es? Was hilft bei Magenschmerzen oder allgemeinem Unwohlsein nach der Einnahme? Solche Fragen werden dort behandelt.

Was dort nicht behandelt wird sind Fragen der Beschaffung und was der Staatsanwalt deines Vertrauens eigentlich dazu sagt. Und das sind ja doch sehr wesentliche Fragen.

Auch der Spektrum-Artikel sagt dazu nichts, muss er auch nicht aus seiner wissenschaftlichen Perspektive heraus. Aber  spätestens wenn man das Reddit-Forum besucht hat, fällt auf, dass der Artikel Psylocybin unterrepräsentiert und nur nebenbei erwähnt („Neben LSD nutzen die Betroffenen auch Psilocybin, den Wirkstoff der »magic mushrooms« […].“ Sehr viel später im Text dann „[…] Psilocybin und LSD […] binden an einen bestimmten Serotoninrezeptor namens 5-HT2A.“). In der Microdosing-Community spielt Psiylocybin eine deutlich größere Rolle. Der Mangel an Erwähnung im Artikel ist schade, weil eine Suche nach psylocybinhaltigen Pilzen (in der Suchmachine, nicht im Wald) durchaus interessante Ergebnisse bringt, auch und gerade in Bezug auf Fragen der Beschaffung und der Legalität.

Man sollte denken, die Sache mit der Legalität sei relativ schnell geklärt. Die für das Microdosing in Frage kommenden Substanzen LSD und Psilocybin dürfen weder gehandelt noch besessen werden, wenn die treibende Kraft dahinter Rausch, Vergnügen oder Selbstverbesserung ist. Das gilt auch, wenn die Substanz, wie im Falle von Psilocybin, noch im Pilz ist. Ende aller Microdosing-Fantasien.

Aber wartet, vielleicht habt ihr schon einmal davon gehört, dass manche Sorten von französischen Schimmelkäse nach deutschem Lebensmittelrecht nicht zulassungsfähig wären. Aber weil sie in Frankreich zugelassen sind, dürfen diese Käsesorten auch in Deutschland gegessen werden. Okaaay, falls es nicht wahr ist, ist es gut erfunden.

So ähnlich auch hier, Wikipedia schreibt im Artikel zu psilocybinhaltigen Pilzen zur Rechtslage in den Niederlanden:

Das Verbot betrifft psilocybinhaltige Pilze, während psilocybinhaltige Trüffel und Pilzzuchtsets verkauft werden können. Am 13. September 2019 veröffentlichte die Steuerbehörde der Niederlande die zollrechtliche Kategorisierung und den dazugehörigen Steuersatz für magische Trüffel und hat diese damit als Genussmittel legalisiert.

Manche schließen daraus: Magische Trüffel sind seit 2019 dank Holland ein in der EU anerkanntes und legales Genussmittel in jeder Mengenordnung. So oder ähnlich steht das auch auf den Seiten mancher Versender. Dem Einen sein Käse ist des Anderen Trüffel.

Aber kann das sein? Wenn es um rechtliche Fragen geht, verlasse ich mich doch lieber auf Anwälte, diese hier und nur zum Beispiel:

„Auch wenn Anbieter von magischen Trüffeln etwas anderes behaupten: Psilocybin und Psilocin sind in der Anlage 1 zum Betäubungsmittelgesetz (BtMG) aufgeführt. Damit ist jeglicher Umgang mit Pilzen oder deren Bestandteilen in Deutschland verboten und nach § 29 Absatz 1 BtMG strafbar.

Die Begründung für die angebliche Legalität in Deutschland lautet: Die niederländische Steuerbehörde habe für die Trüffel 2019 einen Steuersatz veröffentlicht und sie damit für verkehrsfähig erklärt.

Es ist aber ein Trugschluss, dass aufgrund des gemeinsamen EU-Binnenmarktes damit automatisch eine Legalisierung in allen anderen Staaten der Europäischen Union und der Europäischen Freihandelszone (EFTA) verbunden ist. In Deutschland gilt weiterhin die bisherige Rechtslage und damit das Verbot nach dem Betäubungsmittelgesetz.“

Und damit ist jede Aussicht auf legales Microdosing in Deutschland vom Tisch. Sehr schade, das!

Im nächsten Leben werde ich Holländer, dann könnte ich mir dort einen der vielen Smartshops googlen, mir total legal magische Trüffel kaufen und was gegen meine Depressionen tun. Nur mal so zur Abwechslung.

Gespräche mit der Fee (1)

Für das, was jetzt kommt, gibt’s keinen einfachen Einstieg, denn neulich kommt die Zahnfee bei mir rum, sagt, sie fragt für eine Freundin, die sei im Sterbebusiness, könne aber gerade nicht, weil Krieg und Krise und Pandemie, und überhaupt, meistens hätten es ihre Leutchen eh nicht eilig.

Stell‘ Dir vor, sagt sie, nur mal so hypothetisch, Du darfst Dir aussuchen, wie Du stirbst. Okay, nicht genau „aussuchen“, sagt sie, aber Vorlieben würden berücksichtigt, das sei ja schon mal was. Bei Feen gibt es immer irgendwelche Haken, denke ich, und ob’s wohl irgendwas wert ist, dass wir uns schon seit meinem ersten Milchzahn kennen. Aber, sagt sie, die Sache hat einen Haken, ihr sei das ja unangenehm, aber die Freundin …, und sie wäre da ja lockerer, andererseits hätte jeder Deal so seine Regeln und ich wisse schon. Wie sie so rumdruckst kann ich sie doppelt gut leiden, und auch weil wir uns schon so lange kennen.

Der Haken ist der, sagt sie, egal was Du Dir wünschst, sterbensmäßig, und das sagt sie wirklich so, das kommt dann deutlich schneller als alles, was Du nicht willst. Also ganz anders als im Leben, aber es ginge ja auch ums Sterben, da müsste ich mich nicht wundern, sagt sie. Und warum ich so ein Gesicht machen würde, fragt sie, denn …, und dann leuchtet kurz ihr linkes Ohr und sie murmelt irgendetwas schwerverständliches von Bälgern, die sich mit den Drecksrollern die Vorderzähne ausfallen, und dann wieder zu mir, da sei gerade ein Notfall hereingekommen, sie müsse da wirklich hin und wir könnten ja demnächst weiterreden und die Sache mit mir und der Freundin sei ja nun wirklich nicht dringend … und schwupps, weg ist sie. Ich bin zu alt für den Scheiß!

<O>

Drei Tage später, ’selber Ort, ’selbe Zeit, ’selbe Fee, die einsteigt als sei sie niemals fortgewesen, also, sagt sie, sie hätte da nochmal nachgehakt, rein interessehalber, und ob mir eigentlich nicht klar sei, was ich anstelle, wenn ich so ins Universum hineinwünsche. Ich halte das für eine rhetorische Frage und sage lieber nichts, wüsste ohnehin nichts drauf zu sagen außer ja, also nein, nicht klar, gar nicht klar. Aber sie ist sowieso nicht zu stoppen, weil nämlich, ich hätte bei verschiedenen Gelegenheiten den Wunsch geäußert, möglichst schnell und überraschend abzutreten, so, und das könne ich jetzt haben, und ob ich jetzt zufrieden sei. Auch das könnte eine rhetorische Frage sein, andererseits fragt eine Fee, vielleicht gibt es sowas wie Qualitätsmanagement in der Abteilung für Wunscherfüllung. Könnte eine große Sache sein in der Feenwelt, Kundenzufriedenheit, und um ehrlich zu sein bin ich noch am Verdauen der Nachricht, ich meine, zuerst ’ne Zahnfee, plötzlich geht’s um bevorzugte Sterbeweisen, alles wirkt, als hätte ich eine Wahl, aber welche eigentlich, und schon sprechen wir von einem schnellen und überraschenden Abgang. Und ob ich jetzt zufrieden bin. Nein, ich bin verwirrt.

Vor mir immer noch dreißig Zentimeter personifizierter Redefluß, froh sein könne ich, sagt er, der Redefluß, also sie, die Fee, dass ich wenigstens den Zeitpunkt offengelassen hätte, sonst …, ach, sei ja auch egal, und sie hätte das gehört mit dem Zu-alt-für-den-Scheiß beim letzten Mal und ich solle mir mal nichts vormachen, ich sei genau in dem Alter für den Scheiß!

Irgendwie hat sie den Faden verloren und es ist zum ersten Mal Ruhe, schön ist das, sie scheint wirklich fertig zu sein. In beiden Bedeutungen der Redewendung, sie hat nichts mehr zu sagen und sie wirkt etwas mitgenommen. Okay, sage ich in die entstandene Stille hinein, aber eigentlich weiß ich nicht so genau, was ich damit meine, denn nichts ist okay.

<O>

Ein paar Stunden später hab‘ ich’s verstanden, und nach dem ich’s verstanden habe, haben wir echt noch ’ne ganze Weile geplaudert, spannendes Zeug, ist eigentlich ’ne ganz Nette, die Fee, hat sonst auch ganz andere Kunden und …, sorry, ich schweife ab, ein anderes Mal davon vielleicht mehr.

Im Wesentliche läuft’s darauf hinaus, dass die „Freundin im Sterbebusiness“ in unserem Kulturkreis gerne mal als Todesengel auftritt, was der Zahnfee aber übertrieben dramatisch vorkommt, weswegen sie in meinem Fall gerne eingesprungen ist als Not am Mann war, also der Fee, dem Engel, egal. Die Freundin hätte Einfluß auf die Umstände und den Zeitpunkt des Todes, allerdings nur begrenzt. Das Alles sei schwer zu verstehen, also eigentlich sagte sie „scheiße-kompliziert“, weil jede „Fucking-Sekte“ ihre eigenen Metaphern für den Abgang und das ganze Drumherum hätte. Den Feen, sagt sie, könne das egal sein, im Grunde seien sie für die Erfüllung von Sonderwünschen zuständig und dabei hätten sie sich nach dem Verhältnis von Alltagswünschen und deren Erfüllung im bis dahin gelebten Leben zu richten. Dafür sei allein der kulturelle Algorithmus zuständig, sagt sie wirklich so, sie bekäme nur den W2E-Score, der da irgendwie rausfällt, wieder Originalton, und das gilt dann so.

An der Stelle war ich knapp davor, mir einfach eine andere Fee zu wünschen, ich meine, wenn interessiert das? Genau, sagt sie, niemand! Oopsy-oopsy-oops, ja, kannst Dir das reden sparen, ich krieg’s auch so mit. Ach, denke ich mir, probehalber mal ’ne Frage …, Ampeln, Fahrräder, Palmen, sagt sie, Treppenstufen, Hydranten und Schornsteine hätten es auch sein können, die hast Du vergessen, außerdem jede beliebige Dreierkombination davon, das wären …, kein Mensch mag Klugscheißer, denke ich. Verstanden, sagt sie, also eigentlich sagt sie „copy that“, und meint damit, dass sie versucht, sich zurückzuhalten. Wir verstehen uns immer besser.

Okay, sagt sie, ich spar‘ mir die Feinheiten, ja, kein Mensch interessiert sich für die Berechnung von irgendwelchen Scores, bin mir nichtmal sicher, ob’s gut wäre, wenn …, nicht ablenken, krätsche ich denkenderweise in den Redefluß, okay, sagt sie, wird alles wegabstrahiert, kriegste nix von mit, also gar nix, nichtmal Feen kommen vor, alles vollkommen im Untergrund, das gesamte Wunscherfüllungsbusiness. Gerade will ich mich über die Anglizismen …, jetzt lenkst Du ab, sagt sie.

Superverkürzt also: wir bekommen im Leben im Wesentlichen das, was wir verdienen, in meinem Fall sei  das „etwas unheitlich“, Klartext, denke ich, kannste knicken, sagt sie, Du schreibst das in den Blog und da will ich nicht …, ist ja auch egal, sagt, sie, bei guten ethischen Durchschnittswerten gibt es da erstaunliche Ausreißer nach oben und unten, und da kann die Freundin keinen vernünftigen Tod draus ableiten, muss ja irgendwie plausibel sein, also für unsereins, bei euch – und wie ich sie verstehe, meint sie damit Leute, die man nicht nur sehen, sondern auch anfassen kann – kommt die Sterberei sowieso immer falsch an.

In meinem speziellen Fall, sagt sie, sei alles schon arrangiert, weißt schon, das Aneurysma der Aorta Ascendens, das während des CT’s so nebenbei gefunden wurde, sie klingt, als sei sie ein bisschen stolz. Ich brauch‘ ’nen Moment, bis ich’s verstanden habe, okay sag‘ ich, nur zur Sicherheit, dass ich da nichts mißverstehe, also Option A …, die Du ja unbedingt ins Universum herausplärren musstest, unterbricht sie mich, … besagt, dass ich ab jetzt jederzeit überraschend sterben könnte …, mit 90prozentiger Sicherheit dann, sorry, mehr war nicht drin, wirft sie ein, … während Option B einige Jahre mehr und alle Chancen auf ein würdeloses Alter und multiples Organversagen an seltsamen, piepsenden Maschinen enthält. Yep, sagt sie, für A einfach weitermachen, für B ’ne häßliche Operation überstehen, ich hätte die Wahl.

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Wie schon erwähnt, wir haben dann noch etwas geplaudert. Und erst viel später habe ich mich gefragt, warum sie die Operation als „häßlich“ bezeichnet hat. Google hatte Antworten und wenn die Euch interessieren, also ernsthaft jetzt, würde die Fee sagen, dann dürft Ihr hier Gespräche mit der Fee (1) weiterlesen

Die Strahlentherapie

Vor die Strahlentherapie haben die Behandlungs-Leitlinien eine Testosteron-Entzugsbehandlung und zwei weitere CT’s gesetzt. Zwingend in dieser Reihenfolge.

Die Testosteron-Entzugsbehandlung wird vom niedergelassenen Urologen durchgeführt und verzögert die Strahlenbehandlung nochmal um zwei Monate. Sie wird von weniger mitfühlenden Zeitgenossen auch „chemische Kastration“ genannt. Libidoverlust und Erektionsstörungen könnte ich für eine begrenzte Zeit und mangels Partnerin noch hinnehmen. Wo ist das Problem, wenn man als Single-Mann nicht vögeln kann und glücklicherweise auch gar nicht will. Das klingt doch fast entspannt.

Schwieriger wird es bei den möglichen „depressiven Verstimmungen“, der Antriebslosigkeit, der Gewichtszunahme oder den Männerbrüsten. Will ich alles nicht haben, allem voran nicht zusätzlich zur ohnehin schon vorhandenen Depression und Antriebslosigkeit. Anders als andere Männer kann ich mir diese Nebenwirkungen sehr genau vorstellen, ich kenne sie und will sie nicht.

Ich kann meinen Urologen am Telefon davon überzeugen, dass wir die Testosteron-Entzugsbehandlung lassen. Wegen „Zugewinn von Lebensqualität in der verbleibenden Zeit“ und so. Ich finde, er sollte noch etwas an seinen Formulierungen feilen. Im Folgenden schickt er mir seine Beratung nochmals schriftlich und ich unterschreibe, dass ich wirklich keine Behandlung wünsche.

Die folgenden zwei CT’s sind schnell vereinbart und entspannt, eines davon wird mit Kontrastmittel durchgeführt, sucht nach Metastasen und findet keine. Das andere ist das „Planungs-CT“, danach habe ich Markierungen auf dem Bauch und den Hüften, mit deren Hilfe ich bei den folgenden Bestrahlungen auf dem Behandlungstisch ausgerichtet werde.

Die Behandlung beginnt am 9.11.22 und wird 28 Einzelbestrahlungen umfassen, ich muss also rund sechs Wochen lang jeden Tag in die Klinik.

<O>

Nach den ersten sechs Bestrahlungen kann ich sagen, dass der Vorgang selbst erstaunlich schnell ist und nichts, was Sorge bereiten muss. Ich sitze zum angegebenen Termin – der selten länger als 15 Minuten überschritten wird – in der Wartezone, werde aufgerufen, ziehe in einer Kabine Schuhe und Hose aus, gehe in den Bestrahlungsraum, lege mich auf die Liege, werde vom Fachpersonal mittels Laser (wie von der Wasserwaage bekannt) und der Markierungen auf Bauch und Hüfte ausgerichtet, dann verlässt das Fachpersonal den Raum und der Rest geschieht automatisiert. Vier Aparaturen werden an beruhigend massiven Aufhängungen um die Liege herum positioniert und im Kreis um meine Hüftregion herumgeführt, meinem laienhaften Verständnis nach dienen zwei davon der Bildgebung, eines der Bestrahlung und eines Dings, nach zwei bis drei Minuten ruckelt gelegentlich die Liege,  ich vermute damit wird die Prostata ins zu bestrahlende Zentrum gerückt, dann wird es etwas lauter, das ist die eigentliche Bestrahlung, die nicht länger als eine Minute dauert.

„Der Mercedes unter den Linear-Beschleunigern.“

Fertig, das Fachpersonal kehrt zurück, gibt die eine oder andere Rückmeldung zu Blase und Darm (davon gleich mehr), fährt die Liege wieder in eine bodennahe Position und entlässt in die Kabine, Hose und Schuhe an und ab geht es nachhause. Wenn alles gut geht, bin ich eine halbe Stunde nach Betreten des Gebäudes wieder draußen. Gegenwärtig rechne ich für die Wege hin und zurück je 30 Minuten (ich fahre unangestrengt mit dem Pedelec), im Best-Case-Szenario habe ich also einen täglichen Zeitaufwand von cirka eineinhalb Stunden.

Das gilt an vier von fünf Tagen, einmal pro Woche habe ich im Anschluss noch einen Termin auf der „Pflege“, der der Abgabe der wöchentlichen Urinprobe und zum Besprechen eventueller Nebenwirkungen dient. Auch hier war bisher alles schnell, freundlich und kompetent. Die größte Sorge scheint man sich hier um die eventuell auftretenden Hautreizungen zu machen, „Patienten-Info 55 – Hautpflege Prostata / Rektum (Männer)“ wird übergeben. Alles weitere bei Bedarf, soweit, so unkompliziert.

Um Langeweile und Routine vorzubeugen bringt das wirkliche Leben sich mit der einen oder anderen Komplikation ein. Blähungen sind so eine Komplikation, weil sie einem vollen Enddarm sehr nahe kommen. Und der soll während der Bestrahlung möglichst leer sein, ganz anders als die Blase, die möglichst voll sein soll. Beide Wunschzustände halten die Belastung des die Prostata umgebenden Gewebes – und damit auch die auftretenden Nebenwirkungen – möglichst gering. Als Patient wünscht man sich das und käme dem auch gerne nach.

An dieser Stelle kann sich jeder vorstellen, wie das für ihn wäre, wenn er zu einem nicht von ihm zu bestimmenden Zeitpunkt X +/- 10 Minuten  die Blase möglichst voll und den Enddarm möglichst leer haben soll. Was die Blase angeht kann das aufgrund der „schnellen Reaktionszeit“ halbwegs gut gelingen. Drei/vier Tage definierte Wassermengen eine definierte Zeit vor Zeitpunkt X trinken und beobachten was geschieht, dann hat man ein ganz gutes Bild davon, was mit der eigenen Blase so möglich ist. Oder eben nicht, „Jugend forscht“ mal ganz praktisch.

Der leere Enddarm ist da eine schwierigere Aufgabe, Reiz und Reaktion liegen weit auseinander und der Input ist variabel. Kommt erschwerend hinzu, dass mein Lebenswandel eher unregelmäßig ist und es bisher wenig Anlass gab, meinen Stuhlgang genauer zu beobachten. Ich halte das für ein gutes Zeichen, Dinge, die gut funktionieren, verlangen selten Aufmerksamkeit. Aber irgendwelche verlässlichen Datenpunkte kommen solcherart unbeobachtet natürlich auch nicht zusammen. Meine Vermutung: Stuhlgang statistisch gehäuft am späten Vormittag. Aber darauf wetten würde ich nicht einmal einen kleinen Betrag.

Weiterhin erschwerend, Verdauung ist eine der unwillkürlichen Körperfunktionen, wir haben nicht wirklich Einfluß darauf. Auch das vermutlich ein Vorteil, nichts hat sich verbessert, seit ich versuche meinen Stuhlgang zu verstehen. Kurz, ob mein Darm zu den Bestahlungsterminen voll oder leer ist, habe ich subjektiv nicht im Griff. Bisher (8. von 28 Tagen) war es fast immer gut.

Wenn es nicht gut ist (siehe oben, Blähungen mit kleinen Masseanteilen), fällt das bei der Bildgebung auf, man muss wieder aufstehen, darf nochmal in den Wartebereich, dort mehr trinken oder auf die Toilette gehen und natürlich nochmal warten. Das Fachpersonal geht mit der solcherart zerschossenen Routine routiniert um, vermutlich kommt so etwas regelmäßig vor. Zwanzig bis dreißig Minuten später liegt man nochmal auf der Liege und hoffentlich ist alles gut.

Ich denke, was man subjektiv aus der Situation macht, ist verschieden. Bei mir ist da ein kleines, rational völlig unnötiges Versagensgefühl. Denn ich möchte ja alles richtig machen, schon aus Eigennutz, aber auch der Fachmenschen und dem ungestörten Ablauf wegen. Ich möchte gemocht werden, und sei es nur, weil ich so ein freundlicher und unkomplizierter Patient bin. Und so lange ich nicht Herr meiner Verdauung bin, wird  das nichts. Dumme Sache, das. So entsteht Stress, den niemand braucht, der aber wirkt – stimmungsmäßig neben-wirkt.

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Heute ist ein bestrahlungsfreier Tag, ob absichtlich oder zufällig genau nach dem 14. von 28 Bestrahlungstagen, weiß ich nicht. Aber ähnlich wie ein Feiertag fühlt sich so ein „unverdient“ freier Tag gut an, fast als bekäme man etwas geschenkt.

Die Strahlenbehandlung wird als nebenwirkungsarm beschrieben, und soweit es mich betrifft, stimmt das bis jetzt. Aber nebenwirkungsarm bedeutet nicht nebenwirkungsfrei, meine Blase wird das gerne bestätigen. Ich muss bestimmt doppelt so häufig pinkeln wie gewohnt, wobei entleerte Menge und gefühlter Harndrang nur noch selten im Verhältnis zueinander stehen. Dies zu guten Zeiten und entspanntem Umfeld.

Zunehmend schwieriger wird es, die maximale Blasenfüllung zum exakten Bestrahlungszeitpunkt hinzubekommen. Wenn ich dann versehentlich zuviel trinke, so geschehen gestern, wird es schnell quälend, weil die Blase verkrampft und anschließend das Denken. Liegenderweise Visionen davon, wie ich mich auf der Liege einnässe, ich krampfe weiter, frage mich, ob die Anspannung jetzt wirklich mein Becken etwas aus der eingestellten Position heraus bewegt hat, vielleicht glaube ich das auch nur. Wenn alles endlich rum ist und ich am Urinal stehe, kommen erstmal nur ein paar Tropfen, das nimmt den Harndrang, aber leert die Blase nicht. Die Blase möchte erst etwas laufen oder Fahrad fahren, bevor sie sich zur vollumfänglichen Entleerung bereit erklärt. Schön, wenn dann eine öffentliche Toilette oder wenigstens ein Wald in der Nähe ist.

Der Doc hat mir die Sache mit der Blase so erklärt: Die Krebszellen sind gegen die Strahlen etwas weniger widerstandsfähig als normale Körperzellen (zum Beispiel die der Blase). In den Randbereichen wird die Blase unvermeidlich mitbestrahlt, aber während das auf die Dauer die Krebszellen wegballert (meine Worte, nicht seine) werden die Körperzellen nur angeschossen. Allerdings müssen die jetzt heilen und so, wie jede Wunde anschwillt, wenn wir uns verletzen, schwellen auch die Körperzellen während des Heilungsprozesses an. Das ruft dann die oben beschriebenen Irritationen hervor, die während der Bestrahlung eher stärker werden, weil wir uns an der metaphorischen Wunde ständig den Grind abkrippeln. Besser wird es erst nach der Behandlung, wenn der Heilungsprozess ungehindert ablaufen kann. Ich freu‘  mich schon drauf.

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Nach einigen Selbstversuchen bin ich zur optimalen Blasenfüllung bei Folgendem angelangt: 65 Minuten vor dem Bestrahlungstermin 0,8 Liter Flüssigkeit, bevorzugt ein Gemisch von langezogenem Schwarztee und Orangensaft im Verhältnis 3:1.

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Heute endlich der letzte Tag der Bestrahlung, zum Schluß nochmal 10 Minuten mit dem Doc. Wie es scheint, bin ich mit wenigen Nebenwirkungen aus der Geschichte herausgekommen. Insbesondere der Darm scheint gut mitgemacht zu haben, die abgefragten Symptome (sehr weicher Stuhl, teils schleimig, Blähungen und Durchfall) hatte ich an zwei Tagen, einmal sehr früh in der Behandlung, und einmal gegen Ende hin. Der gewohnte Rhythmus ist leicht gestört, ich muss öfter auf die Toilette als gewohnt, und die Rosette ist gereizt, weswegen auch immer.

Alle oben beschriebenen Lästigkeiten mit der Blase haben sich in den letzten Behandlungstagen noch verstärkt. Nachts muss ich alle zweienhalb Stunden pinkeln, tagsüber stellt sich oft unerwartet, etwa wenn ich aufstehe, Harndrang ein (betone Drang, wie in dringend), der dann aber in Milliliter gemessen eher enttäuschend ist. Auch ist dieser Drang nicht mit physikalischem Druck zu verwechseln, da drückt gar nichts! Gefühlt funktioniert meine Blase über Entspannung und Schwerkraft, sie läuft halt aus, wenn ich geeignete innere und äußere Voraussetzungen schaffe. Das alles könnte laut Doc die nächsten Tage noch etwas schlimmer werden, sollte dann aber über zwei bis drei Wochen hin ausheilen.  Ein Nachsorgetermin in 4 Wochen ist vereinbart.