Jahresrückblick 2023

Die Idee hinter dem vorgezogenen Jahrerückblich war, Euch die wenig unterhaltsame Schilderung der Jahresendzeitdepression gleich zu Beginn des Beitrags zu ersparen. Das wird zumindest in diesem Jahr nicht gelingen, zum einen weil ich hier, entgegen der behaupten Absicht, gleich mal damit einsteige, dass ich anscheinend in diesem Jahr meine Jahresendzeitdepression deutlich vorziehe. Mein gegenwärtiges Aktionslevel ist niederschmetternd niedrig.

Und genug davon, Ende des depressionsbezogenen Klagens.

Zum anderen wird es hier wenig unterhaltsam, weil das Jahr es nicht war, so gar nicht. Im Fogenden wird das unangenehm deutlich und selten war ich so unsicher, ob ich einen Text veröffentlichen sollte.  Den Ausschlag zur Veröffentlichung gab letztendlich so etwas wie der Wunsch nach Vollständigkeit, es wäre doch schade, wenn im Sammelalbum meines Lebens ein paar entscheidende Kapitel fehlen. Auch wenn sie etwas dunkel sind. Da müssen wir halt gemeinsam durch.

Zur Erinnerung, der letzte Jahresüberblick endet mit mir in der Strahlentherapie, vorsichtig optimistisch in Bezug auf die bevorstehende Heilung und die unvermeidlichen Nebenwirkungen. Womit ich, Spoiler, durchaus richtig lag, wie die regelmäßigen Kontrolluntersuchungen zeigen. Dennoch, der Dezember des Jahre 2022 hat mich zerlegt (nachzulesen hier), danach lag ich ein paar Monate in Teilen herum und  habe mich bis heute nur unvollkommen wieder zusammengesetzt. Weniger dramatisch ausgedrückt bin ich vielleicht einfach nur in meinem wahren Alter angekommen und all die Jahre davor, in denen ich mich überwiegend gesund und vergleichsweise jung fühlte, waren das Geschenk eines günstigen Schicksals, guten Karmas oder guter Gene.

Im Januar finde ich mich also in der Reha zur Prostatakrebs-Bestrahlung wieder, die nun aber auch die Folgen eines Herzinfarkts und zweier Stent-Operationen lindern soll. Wie gut das gelingt, will ich nicht beurteilen, denn drei andere Themen drängen sich tageweise und mit wechselnder Intensität in den Vordergrund. Später werde ich noch darauf eingehen, als Psycho-Themen ziehen sie sich durch den Rest des Jahres, Kraft gesaugt haben sie während der Reha sehr, möglicherweise auch deren Erfolg beeinträchtigt.

Um die Hardware-Schäden schnell abzuhandeln, Prostata und Herz werden regelmäßg von Spezialisten gecheckt und alles ist in einem erwartbaren Rahmen. Dennoch ist meine Leistungsfähigkeit gegenüber dem Vorjahr eingeschränkt und es fühlt sich so an, als würde das auch so bleiben beziehungsweise altersbedingt  abnehmen. Bei den Hardware-Schäden mitzudenken ist immer auch die Gehbehinderung durch den Archillessehnenriss links. Ich komme nur deshalb bei schnellem Laufen nicht außer Atem, weil ich gar nicht schnell laufen kann. In der Folge, vermute ich, wird auch das rechte Bein nicht ausreichend trainiert, seit dem Oberschenkelbruch vor rund zwei Jahren ist es deutlich weniger belastbar. Aber, trotz aller Einschränkungen, noch geht alles alleine und das aufzuschreiben ist schon ein erster Hinweis darauf, dass die Gedanken schon manchmal bei einer Zeit sind, in der das nicht mehr so sein wird.

Die Hardware zeigt also deutliche Abnutzungserscheinungen. Damit nicht genug, die Software ist ebenfalls ziemlich buggy. Als Meister der subtilen Überleitung komme mit dieser flappsigen Bemerkung zu den bereits angekündigten ganz und gar nicht flappsigen Psycho-Themen, denn die sind letztlich alle nur Variationen eines großen Themas, dem Sterben.

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Anlass, sich über das Sterben Gedanken zu machen, gab es genug. Als Helen Anfang Dezember starb, kam das für den Rest der Familie gänzlich unerwartet.  Wie um zu beweisen, dass auch ich „unerwartet“ kann, bekomme ich zwei Tage später einen Herzinfarkt und drei Tage später einen Stent gesetzt, die Strahlenbehandlung muss ich während der kurzen Nach-Überwachungszeit nicht unterbrechen, sie findet im gleichen Krankenhaus nur drei Stockwerke tiefer statt. Als Unterstützung für die Kinder, unsere gemeinsamen, nun erwachsenen Kinder, falle ich komplett aus, selbst meine eigene Trauer ist mir in dieser ersten Zeit nach ihrem Tod nicht zugänglich. Zu beansprucht bin ich von Strahlenbehandlung und physischem Herzleid, alles was ich möchte ist dasitzen, vor mich hin schauen und heilen.

Tatsächlich komme ich erst sehr viel später im Jahr dazu, meiner Trauer etwas mehr nachzuspüren, sie zu empfinden und zu durchleben. Im August besuche ich meinen Sohn und dessen Familie in Hamburg, wo auch Helen lebte. Im Rahmen dieses Besuchs schauen wir viele Bilder von Helen an, sprechen über sie und besuchen auch ihr Grab. Würde sie leben, hätten wir uns in diesen Tagen sicherlich getroffen; erstmals wird ihr Fehlen „wirklich“.

Wieder zuhause besucht mich meine Tochter für ein paar Tage, auch sie hat Fotos, Erinnerungsstücke und Fragen zu Helen im Gepäck. In den Gesprächen mit ihr bemerke ich in mir einen Differenzierungsprozeß, Trauer hat verschiedene Seiten, kommt mal tränenreich sentimental daher, mal resignativ bedauernd, manchmal mit Beimischungen früherer, auch schwieriger Gefühle ihr gegenüber. Alte Liebe und alte Kränkung kommen Hand in Hand. Ungelebte Chancen zeigen sich im Rückblick genauso klar wie unerfüllbare Erwartungen.

Vor wenigen Tagen wäre Helens 63. Geburtstag gewesen und bildete den Anlass, in Gedanken für einige Zeit bei ihr zu sein. Noch immer gibt es neue Facetten in diesem Gedenken, dennoch, es fühlt sich an, als sei zuende getrauert. Sie fehlt, aber ihr Fehlen schmerzt nicht mehr.

Ein anderes Ergebnis des Tochterbesuchs: es gibt jetzt endlich eine Patientenverfügung. Nach einer über einjährigen Pause, in der „eigentlich“ schon alles vorbereitet und vorgedacht war, es fehlte wirklich nur noch die Umsetzung  (ein paar Haken im Onlineformular, ausdrucken, unterschreiben) und – hier Auftritt der Tochter – jemand, dem die Aktion wichtig ist. War sie ihr, es gab eine dringende Bitte zum Termin X …, und done! Es kann so einfach sein.

Wie überhaupt, schon während des Jahres hatten wir verschiedene Telefongespräche, in denen wir durchgingen, was so alles schwierig werden kann, wenn ein nahestehender Mensch stirbt; meint: ich. Dabei hatten wir durchaus unsere emotionalen Momente, sind aber auch in der Sache vorangekommen. Meine wesentlichen Wünsche sind mitgeteilt. In Stichworten: Feuerbestattung, Friedwald, Erbverteilung. Selbst so praktische Dinge wie der Geräte- und Kontenzugang, jeweils off- und online, wurden besprochen. Mit all dem bin ich sehr zufrieden, solche Gespräche nehmen die Schwere aus dem Thema und führen zur Akzeptanz. Drüber reden hilft, selbst beim Sterben.

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Ein weiteres großes Thema war die Demenz meiner Mutter, die mir wie eine unnötig in die Länge gezogene Variation des Sterbens vorkommt. Was ich so nicht schreiben würde, wenn ich nicht irgendwann bei mir bemerkt hätte, dass ich um sie trauerte. Vergangenheitsform, der Zustand dauerte nicht lange an und fiel in die Zeit der Reha, in der ohnehin alles geballt stattfand, was ich Euch hier halbwegs sortiert erzähle. Es war, es ist, als sei sie gestorben.

Mich in ihre Demenz einzufühlen gelingt mir nicht. Zumindest nicht im Sinne eines Mit-Leidens, auch hier eher abstrakt und, nun, wertend. Demenz ist der ultimative Move aus der Auseinandersetzung und der Beziehung heraus, hinein in eine Welt, die nur ihrer Interpretation folgt. Was wahr und was erfunden ist, kann und muss nicht mehr unterschieden werden. Sie hätte dies Unschärfe auch wesentlich früher in ihrem Leben zu schätzen gewußt.

Die Demenz meiner Mutter wurde lange nicht erkannt, vielleicht auch nur verleugnet. Anfang des Jahre wurde deutlich, dass sie nicht mehr alleine in ihrer Wohnung sein könnte. Da die Beziehung zu meiner Mutter immer schwierig und niemals wirklich liebevoll war, war ich nicht bereit, die Verantwortung für sie zu übernehmen und bestand darauf, dass ein gesetzlicher Betreuer eingesetzt werden müsste. Bis zur Benennung einer Betreuerin dauerte es mehrere Monate, in dieser Zeit blieb ich gezwungenermaßen Ansprechpartner Nummer Eins für Nachfragen bezüglich ihres Verbleibs, die ich regelmässig nicht beantworten konnte.  Schmerzhaft deutlich wird auch, wie dysfunktional die Restfamilie ist, der Umgang miteinander ist – in der schwächstmöglichen Formulierung – unfreundlich und kontraproduktiv. Die Auseinandersetzung damit verschwendet unnötig viel Kraft, die ich an anderen Stellen sehr gebrauchen könnte.

Mir, und auch der irgendwann dann eingesetzten gesetzlichen Betreuerin, war von Beginn der Misere an klar, dass Mutters Wohnung aufgelöst und verkauft werden müsste. Insgesamt dreimal war ich, zum Teil mehrere Tage, in der Wohnung um Papiere zu sichten und Erinnerungsstücke zu entnehmen. Jeder dieser Besuche brachte Photoalben oder Schriftstücke zutage, die bewahrenswert sind. Insbesondere beim letzten Besuch, gemeinsam mit meiner Tochter, fanden wir nochmals alte Urkunden aus einer Zeit, als meine Mutter genealogische Nachforschungen betrieben hat. Im Ergebnis habe ich nun Kisten voller Zeugs bei mir herumstehen, von dem ich nicht weiß, wohin ich damit soll. Vieles davon könnte digitalisiert werden, ich habe auch schon damit begonnen, letztlich ist das aber aufwändiger, als ich zunächst dachte. Seit mehreren Wochen (hoch einstellig) steht das Zeug nun unangetastet herum und wartet auf weitere Entscheidungen meinerseits.

Emotionen bezüglich meiner Mutter sind mir kaum zugänglich, vielleicht auch wirklich nicht vorhanden. Ins Leiden kam ich immer nur, wenn von außen die Erwartung an mich herangetragen wurde, dass ich etwas für sie zu fühlen und in der Folge auch zu entscheiden hätte. Seitdem die gesetzliche Betreuerin eingesetzt ist und ich meine Mutter gut untergebracht weiß, beschäftigt sie mich wenig. Oder nur auf eine sehr abstrakte Weise. Ich schaue mir die Fotos aus der Zeit an, als ich noch nicht geboren war, und habe Phantasien darüber, wer diese Elternmenschen waren, damals. Oder spätere Fotos, die den Übergang in eine Zeit zeigen, die ich irgendwann dann auch miterlebte. Nachfragen kann ich nichts mehr, ich bin ganz frei, mir Geschichten auszudenken.

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Mir ist danach, den Text an dieser Stelle kurz zu unterbrechen. Schon jetzt ist dieser Jahresrückblick nicht unbedingt ein Gute-Laune-Text, aber ab hier wird es düster. Empathiebegabte Menschen werden nach dem Lesen traurig sein. Ganz ehrlich, Ihr müsst Euch das nicht geben. Wenn Alter, Krankheit und Tod gerade nicht in Euren Tag passen, dann solltet Ihr jetzt aufhören zu lesen und später wiederkommen. Oder gar nicht. Aber natürlich könnt Ihr auch einfach

Das letzte große Thema des Jahres wird mir auch in den nächsten Jahren erhalten bleiben: mein eigenes Sterben. Klar, jeder stirbt. Ebenfalls klar, rein altersbedingt liegt das Thema nahe. Aber, und das macht das Thema unangenehm naheliegend, ich habe ein paar begründete Vermutungen über das wann und wie. Die kühlen Fakten: Ich habe ein Aortenaneurisma, das bei der letzten Untersuchung 50 – 52 mm groß war. Ab 50 mm wird operiert, ab 55 mm dringend dazu geraten. Im Schnitt wächst so ein Aneurisma 1 mm pro Jahr. Es gibt Menschen, die kommen unoperiert auf 60 mm (es kommt halt immer darauf an, wo auf der Gaußschen Normalverteilungskurve wir uns befinden). Bedeutet: ich bin in der kritischen Zone und es wird mit jedem Jahr kritischer, spätestens in drei bis fünf Jahren werden die Docs anfangen, auf eine OP zu drängen. Im Moment neige ich dazu, die Operation zu verweigern. Irgendwann wird das Aneurisma reißen oder auszubluten, unbehandelt dauert es maximal zwei Tage bis zum Tod und scheiße wehtun soll es auch.

Mit diesem letzten Fakt lässt sich hervorragend überleiten zu  dem, „was das so macht“. Als allererstes nämlich Angst, Angst vor Schmerzen und Angst vor Leiden und Angst davor, dass im ganzen Geschehen rund um meinen Tod irgendetwas schief geht und ich anstatt gut sediert wegzudämmern eine Not-OP spendiert bekomme, diese am Ende noch überlebe (gelingt nur einem von zehn) und mit irgendwelchen Folgeschäden eine Ehrenrunde drehen darf, die ich mir nicht wünsche.

Als jemand, der sein ganzes Leben damit verbracht hat, keine Hilfe zu brauchen, bin ich einfach nur angepisst davon, dass mir da in diesen letzten Momenten möglicherweise mein Leben und Sterben aus der Hand genommen wird. Sage ich jetzt.

Was ich sagen werde, wenn mir die Brust schmerzt und der Notarzt fragt, was er tun soll oder darf, weiß ich nicht. Vielleicht klingt weiterleben dann gar nicht so schlecht. Ich lass‘ das mal offen, wer weiß schon, wie er sich in Extremsituationen verhalten wird.

Neben Angst ist da natürlich auch noch Trauer, seltsam genug, dass das geht, Trauer um sich selbst. Ich finde mich eigentlich ganz gut und glaube, die wenigen Menschen, die ich an mich herangelassen habe, sehen das ähnlich. Ein paar Jahre mehr, bei relativ guter Gesundheit, wären schon okay gewesen. Zumindest in den Sommern.

Und dann ist da Resignation. Vor den Wintern, die ich durchleide, und dem, was die Depression von mir übrig lässt. Gäbe es irgendetwas, für das ich leben könnte, vielleicht hinge ich mehr am Leben. Ich erlebe das als Versagen, keine Menschen, keine Dinge, keine Projekte zu haben, für die ich mich noch etwas an dieses Leben klammern könnte. Es ist mir nicht gelungen, ein lebenswertes Leben zu gestalten, das auch im Alter funktioniert. Ich fühle mich wie in einem Jump’n’run-Spiel, wenn man mitten im Level merkt, dass es wieder nicht für einen neuen Highscore reicht, und die Spielfigur gegen die Wand oder in den Abgrund lenkt, Game over. Resignation.

Angst, Trauer, Resignation, niemand kann ständig damit leben. Verdrängung ist angesagt und gelingt gut genug, um mich irgendwie in meinen alltäglichen Routinen zu halten. Wer mich kennt, vor allem, wer mich im Winter kennt, wird wenig Unterschiede zu den Vorjahren erkennen. Ich vermeide, anderen mit meinem Scheiß auf den Sack zu gehen (grob aber treffend ausgedrückt). Meistens klappt das.

Aber es gibt diese Momente, wo ein Druckgefühl in der Brust, ein unerwarteter Schweißausbruch oder ein Ziehen über dem Herzen die Verdrängung durchbricht. Dann frage ich mich furchtsam, ob es jetzt losgeht. Denn irgendwann wird es genau so beginnen und nicht mehr aufhören. Ich oder irgendjemand in meiner Umgebung wird die Sanitäter rufen, rufen müssen, und ab dann gehen die Dinge, gehe ich, meinen vorbestimmten Weg. Kopfkino. Das sind schwierige Momente, die glücklicherweise nicht oft vorkommen. Aber sie kommen vor und ich vermute, dass sie mit den Jahren häufiger werden, den mit den Jahren wächst auch die Wahrscheinlichkeit, dass es diese eine letzte Mal kein Kopfkino ist, sondern „mein letztes großes Thema“, das eigene Sterben.

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