Jahresrückblick 2010

Happy

Etwas verspätet und eigentlich schon abgesagt will ich mich doch noch an einem Jahresrückblick für 2010 versuchen. Schon Ende des Vorjahres war die Kündigung für die Wohnung ausgesprochen, die ich, nachdem die „jungen Erwachsenen“ flügge geworden waren, allein bewohnte. Auszugstermin war Ende März, klare Sache, dass dieser Monat mit Umzugsvorbereitungen und Renovierungsarbeiten belegt war. Und natürlich mit dem Umzug selbst. Unglaublich, was sich in wenigen Jahren so ansammelt. Viel zuviel um alles in einem eigentlich schon eingerichteten Zirkuswagen unterzubringen, auch dann wenn dieser Wagen eigentlich zwei Wagen ist und 44 Quadratmeter Wohnfläche bietet. Weswegen dann ein nicht unbedeutender Teil meines Mobilars zur Freundin in die Wohnung kam und dort nahtlos integriert wurde. Dort hatten wir in den Vormonaten generalüberholt, nicht zuletzt um diese Integration möglich zu machen. Kurz, die ersten drei Monate des Jahres (und ein Teil des vierten) verbrachte ich damit Türen, Wände und Fußleisten zu streichen, nur unterbrochen durch die Notwendigkeit Möbel und Kisten in all die Zimmer zu verteilen, die gerade nicht renoviert wurden.

Seit April wohne ich wieder auf dem Wagenplatz. Mit genau keiner Eingewöhnungszeit, wenig hat sich so sehr verändert, dass es einer Erwähnung wert wäre. Meine Aufzeichnungen zeigen, dass ich ziemlich stark in die Gestaltung der Außenanlage eingestiegen bin. Eine der ersten Aktionen war, die losen Stufen der Eingangstreppe zu zementieren. Anschließend Gartenarbeit im weitesten Sinn, Gewächshaus und Hochbeete für die Bepflanzung vorbereiten, Obstbäume und Hecken schneiden, hier und da eine Pflanze setzen, so Zeug.

Baumschnitt

Besondere Erwähnung verdient der „Buddhabaum“ mit dem Meditationsplatz darunter, der nach mehreren Jahren Vernachlässigung mehr als nur etwas Pflege brauchte. Durch seine besondere Form bietet er kaum sichere Standplätze und lässt er sich nur sehr schlecht schneiden. Letztlich hing ich mit Klettergurt im Baum und habe trotzdem nicht alles so hin bekommen, wie ich es mir wünschte. Am Boden waren die Marmorplatten zum Sitzen neu zu nivellieren und einige Flecken Gras nachzupflanzen, das lief dann wieder gut. Nur, meditiert habe ich in diesem Jahr darunter nicht. Schade eigentlich.

Mai, Juni und Juli sind die Monate im Jahr, in denen ich mich am besten fühle. Es fällt mir leicht aktiv zu sein, meistens bin ich mit Überzeugung bei den Dingen und gelegentlich probiere ich Neues aus. Ein Beispiel dafür, das mich den Mai über immer wieder beschäftigt gehalten hat, ist die Eigenreparatur meines Handys. Das Display hatte den elekronischen Geist aufgegeben. Ich hing und hänge an dem Teil, weil ich im Laufe der Zeit gelernt habe, etwa 20 Prozent seiner Funktionen zu nutzen, ohne in der Bedienungsanleitung nachschauen zu müssen. Ein Modellwechsel kam also nicht in Frage und bei der Recherche auf der Auktionsplattform meines Vertrauens fielen mir einige Mängel-Exemplare auf, die es billig zu ersteigern gab. Da war es nicht weit zu dem Gedanken, das Display selbst auszutauschen. Was haben wir nicht schon alles ausgetauscht, das kann doch nicht so schwer sein? Ich kürze an dieser Stelle etwas ab, zwei(!) gesteigerte Handys und etliche verbastelte Stunden später, Demontage und Montage des Teils gingen nun schon recht geübt von der Hand, funktionierte das Teil wieder. Darauf bin ich stolz, von dieser Art sind die Dinge, die ich an mir mag. Falls ihr nun euch ermutigt fühlt, ebenfalls Handyreparaturversuche zu unternehmen, ein wichtiger Tip: vorher auf YouTube nach einer Demontage-Anleitung suchen. Wenn ihr nicht wisst, wo wann was wie zu lösen ist, werdet ihr vermutlich mehr zerstören, als ihr später wieder reparieren könnt. Wenn ihr es ein- oder viele Male gesehen habt, ist es ganz einfach.

An der Gartenfront wollte ich mit einem defekten Hauswasserwerk den Erfolg wiederholen und bin gescheitert. Ach ja, Stichwort Garten, im Mai beginnt die Pflanzzeit, vorgezogene Tomatenpflanzen ins Gewächshaus, Kürbispflänzchen ins Beet und die angekeimten Kartoffeln in die Erde, ihr wisst schon. Das Zeug wird dann regelmässig gegossen und später im Jahr kann man es essen. Das ist alles sehr aufregend wenn man langsam erzählte Geschichten mag, mir persönlich sind Geschichten, in denen Spitzhacken vorkommen, lieber. Deswegen: Einmal im Mai habe ich an einem Tag vier(!) Gartengeräte neu eingestielt, und eine Spitzhacke war auch dabei.

Ebenfalls im Mai habe ich wieder mit dem Laufen angefangen und bin seitdem regelmäßig mit 30 Km pro Woche unterwegs, im Winter auf dem Stepper sogar etwas mehr. Dabei gehöre ich nicht zu den Lust-Läufern, ich sehe die körperliche Betätigung eher als Depressionsprophilaxe. Die im Sommer allerdings wesentlich besser anschlägt als im Winter.

Und dann war da noch …. also ich sag euch, der Mai hat mich atemlos gemacht, da war echt was los, aktivitätsmässig, ich will jetzt nicht zu sehr in die Einzelheiten gehen. Erwähnenswert ist eigentlich nur noch meine regelmässige Beteiligung an den Abitursvorbereitungen der Lieblingstochter, und der Erstellung ihrer Bewerbungsunterlagen, und der Reparatur ihrer Spülmaschine, und …, also, es ist schön, wenn man gebraucht wird.

Im Juni begann die Renovierung des Kinderwagens, die allerdings in einem frühen Stadium steckenblieb. Als ich anfing „mal eben“ drei Wände neu zu verkleiden, zeigte sich sehr schnell, dass sehr viel mehr Arbeit notwendig sein würde. Einige innenliegende Ständer und Teile des Daches mussten erneuert werden. Was sich in der Ausführung dann hinzog und der Aktion die Fahrt nahm, Ende September fand die Sache mit einer provisorischen Dachbespannung einen vorläufigen Abschluss und muss in diesem Jahr fortgesetzt werden. Dass das so kam hatte auch mit meiner mangelnden Fokussierung zu tun; ich liebe es, das zu tun, was mir einfällt, zumeist unter Vernachlässigung dessen, was ich mir vorgenommen habe. Dem Kinderwagen kam der neue Steg dazwischen, dessen hauptsächliche Bauzeit im der Juli war. Eigentlich ist der Steg kein Steg, sondern eine sechseckige Plattform, die zur Hälfte über den Schwimmbeckenrand ragt. Im August musste ich dem Steg noch einen Dome aufsetzen, vielleicht besser beschrieben als ein pavillonartiges Rankgerüst in Form einer hochbeinigen geodätischen Kuppel. Ziel ist irgendwann einmal unter einem Blätterdach mit Blick über das Schwimmbecken im Schatten zu sitzen und Eis zu essen.

Dome

Wer das Bauwerk anschaut mag sich fragen, warum es wohl zwei Monate dauert, es zu bauen. Es gibt zwei Gründe dafür, der erste ist mein Arbeitsstil, die meisten Menschen würden so gerne Urlaub machen. Anfang und Ende einer Arbeit sind streng lustbetont, Ablenkungen werden gerne angenommen und ausgedehnte Besinnungspausen sind Teil des Prozesses. Der zweite Grund ist die sich hinziehende Materialsuche. Das ganze Teil ist, mit wenigen Ausnahmen, aus Altmaterial gebaut. Da müssen Balken aufgesägt oder Paletten entnagelt werden. Manches Stück Holz hat man drei Mal in der Hand, bis es seinen Platz gefunden hat und irgendwann kommt auch der Moment, wenn die eigenen Vorräte aufgebraucht sind. Dann heißt es, über den ganzen Platz zu streifen und jedes nicht zugeordnete Stück Holz auf seine Eignung hin anzuschauen. Und das mehrfach, sowas zieht sich hin.

Blick unter Jörgs WagenUnd dann, manchmal helfe ich ja auch anderen Menschen. Eine der interessanteren Tätigkeiten war es, die Wagen von J. neu in die Waage zu bringen und abzustützen, Zeitaufwand zwei Tage. Ebenso interessant, wenn auch auf vollkommen andere Weise, der Umzug der Lieblingstochter nach Kassel. Gab es in Giessen noch einige ausgesuchte männliche Helfer, so war ich in Kassel ausschließlich von vier jungen Frauen begleitet, die gutgelaunt die Schlepperei erledigten. Während der Mittagspause vor einer nahegelegenen Kneipe war ich manchmal an „Sex in the city“ erinnert, unbeschwerte Plaudereien mit gelegentlichem Tiefgang. Ich fühlte mich in dem bestätigt, was ich ohnehin schon wußte, nämlich dass wir uns um diese „Kinder“ nicht sorgen müssen, die machen das schon.

SchotterwegWährend die Lieblingstochter im September also ihr duales Studium zur Medienwirtin begann gab es bei mir weitere Baumaßnahmen. Der ehemals ehrgeizig mit selbstgegossenen Betonplatten begonnene Weg von meiner Eingangstür bis zum Hauptweg war schon lange von Gras überwuchert. Dort, wo ich versucht hatte mit Beton-, Natur- und Backsteinen Muster zu pflastern war es zudem uneben geworden. Kurz, die investierte Energie war sowohl unter ästhetischen als auch unter funktionalen Gesichtspunkten verschwendet. Ein zweiter Versuch mit anderen Mitteln war angesagt. Diesmal sollte es Schotter sein, schon im Frühjahr vorbestellt, im Rahmen einer geplanten Schotter-Aktion auf der Besucherplatte. September war schon spät für die Aktion und ich hatte sie schon aus den Augen verloren, als dann „plötzlich“, also mit nur wenigen Tagen Vorlauf, 2 Tonnen Schotter vor der Eingangstür zur Verarbeitung bereit lagen. Nun, so wie Feste gefeiert werden wollen, wie sie fallen, müssen Wege gerüttelt werden, solange die Rüttelmaschine ausgeliehen ist. Drei Tage war sie ausgeliehen, davon eigentlich nur am Samstag zur unbeschränkten Verfügung. Keine Frage also, wann mein neuer Weg angelegt würde. Nicht, dass mir nicht mindestens ein Dutzend bessere Termine eingefallen wären, als genau dieser, andererseits hatte ich sowieso nichts anderes vor. Ähm, also was ich sagen will ist: manchmal genügt es, sich im rechten Moment in die Wer-will-noch-Schotter-und-wieviel-Liste einzutragen, und alles andere erledigt sich (fast) von selbst.

SicherungskastenEin anderer Termin, der ebenfalls von außen angestossen wurde: Im Jahre 11 nach dem Kauf wurde endlich der Sicherungskasten in der geplanten Form durch den Elektriker unseres Vertrauens verwirklicht. Da ich einst die Verkabelung übernommen hatte und für die Installation ab Sicherungskasten verantwortlich war und bin, gab es mehr vor- und nachzubereiten, als sich mit meinem lustbetonten Arbeitsstil verbinden lies. Sei´s drum, es bleibt die Freude nach so langer Zeit endlich eine Baustelle abgeschlossen zu haben. Wobei es ist, wie es immer ist, die nächste Erweiterung der Installation ist schon geplant. Bin gespannt, ob das wieder elf Jahre dauert.

Im Oktober habe ich die schönste Hundehütte der Welt gebaut und November/Dezember war mal wieder Renovierung in der Wohnung der Freundin angesagt. Nach der Sanierung von Bad und Küche durch die Wohnungsbaugesellschaft galt es zu tapeziern, zu streichen, such-dir-was-aus und eine neue Arbeitsplatte einzubauen. Wenig genug für drei Monate und ein Hinweis darauf, dass mir in diesen Monaten der für Aktivität zuständige Botenstoff ausgeht. Ich fühle mich dann wie unsere schlecht eingestellte Motorsense, die klingt im Lehrlauf noch ganz zuversichtlich, nimmt Gas aber nur schlecht an und sobald sie Last bekommt, würde sie am liebsten ausgehen. Dann braucht sie ganz vorsichtig Gas und wenn man zuviel Gas gibt, geht gar nichts mehr. Hat von euch einmal einer versucht, seinem Arzt zu erzählen, er fühlt sich wie seine Motorsense?

Gut, wir haben uns einmal durch das Jahr gehuddelt und es fällt auf, dass alles, was ich beschrieben habe, auf die eine oder andere Weise Handwerk ist. Es macht mir Spass, Dinge herzustellen oder zu reparieren. Ich mag es, das Ergebnis meiner Bemühungen zu sehen und anfassen zu können. Das Blog, dieses Blog ist eine andere Sache. Eine, die oftmals genau so viel Zeit erforderte und fordert, wie ein Stück Handwerk, aber sich viel weniger anfassen lässt. Die für mich interessantesten Ergebnisse sind sogar diejenigen, die ihr hier nicht lesen könnt, weil ich mich entschließe, sie nicht zu veröffentlichen. Mal merke ich, dass ich zu wenig über mein Thema weiß, ein anderes mal entdecke ich eigene Voreingenommeheiten oder einen Ton, der der Sache oder dem Ziel unangemessen ist. So etwas zu bemerken ist, neben anderem, Anreiz genug, den Blog zu führen.

Zum Schluss ein kleiner Blick voraus. Seit November dieses Jahres bin wieder Vorstand des Trägervereins meines geliebten Wohnprojektes. Ich bin sicher der eine oder andere Blog-Beitrag wird von dieser Tätigkeit handeln. Und eine Gesamtschau dazu dann im vorgezogenen Jahresrückblick 2011.

Ungklärte Fragen

Als ich gestern im G-Raum saß und einem Gespräch meiner Mitbewohner zuhörte, erinnerte ich mich an eine Zeit während meiner ersten Lehre. Ich lernte Bürokaufmann in der Werksniederlassung einer großen KFZ-Marke und war in der Abteilung zur Rechnungsstellung eingesetzt. Das geschah zum damaligen Zeitpunkt noch via Lochkarten, die KFZ-Mechaniker vermerkten die geleisteten Reparaturen handschriftlich auf Laufzetteln und später wurden zu den verschiedenen Reparaturen die entsprechenden Lochkarten aus großen Karteikästen gezogen, gestapelt und gemeinsam mit der Lochkarte für den entsprechenden Kunden in einen speziellen Drucker gelegt, der dann die Rechnung auswarf. Das Heraussuchen der Lochkarten war eine endlos stupide Tätigkeit und wurde von Hilfskräften und Lehrlingen erledigt, sprich: mir und acht Frauen aller Alters- und Geistesklassen. Der ganze Vorgang war auch von weniger begabten Menschen schnell zu automatisieren und lies viel Geisteskapazität frei, die meist für die Konversation genutzt wurde. Kurz, es wurde ununterbrochen geschwätzt und gelästert.

Lochkarte

Ich war schon damals ein stiller Zeitgenosse und in „der Rechnungsstellung“ konnte ich besonders wenig zum Gespräch beitragen. Weder der Stil noch die Themen der Unterhaltung lagen mir und so blieb ich schweigsam. Was dazu führte, dass sich die Mädels sehr schnell angewöhnten, ihre Gespräche so zu führen, als sei ich nicht anwesend.  Leider erinnere ich keine speziellen Beiträge, die ich hier als Anekdote einfügen könnte, da ist nur das allgemeine Empfinden geblieben, dass da einiges unangemessen war und nicht in die Öffentlichkeit oder die Ohren des Lehrlings gehörte.

Was mich aber immer wieder verblüffte, war die Zwanglosigkeit (und fast schon Zwangsläufigkeit) mit der über die jeweils gerade abwesende Kollegin geredet wurde. Wobei „geredet“ hier stark beschönigend verwendet wird und abwertende Äußerungen in klarer Sprache einschließt. Kurz: unglaublich, wie die übereinander hergezogen sind! Die abgebrühteren unter den Kommunikationsgenossen mögen das nicht besonders erstaunlich finden, ich fand das damals – und in Teilen auch noch heute – sehr befremdlich. Besonders eines war mir nicht nachvollziehbar. Jede der anwesenden Damen machte die Erfahrung, dass näherungsweise ausnahmslos über die jeweils abwesende Kollegin gesprochen wurde und konnte daher mit einiger Gewissheit davon ausgehen, dass in ihrer Abwesenheit auch über sie gesprochen wurde. Was in meiner naiven Weltsicht dahin führen sollte, dass jede in etwa so über Abwesende spricht, wie sie über sich selbst gesprochen haben möchte. Sagen wir: mit einem Minimum an Höflichkeit und mitmenschlichem Respekt sowie gelegentlichen Einsprengseln von Verständnis und Anteilnahme. Ich habe niemals auch nur ein Bemühen darum feststellen können.

Was mich zu der bis heute für mich ungeklärten Frage führt, ob die Mädels den von mir nahegelegten Schluss einfach nicht zogen oder ob er ihnen egal war. Und natürlich frage ich mich das nicht nur in Bezug auf die erwähnten Damen, sondern auf meine Mitmenschen ganz allgemein. Der konkrete Anlass für die Erinnerung war die gesprächsweise Benennung eines Dritten als Arschloch. Ist dem Schimpfenden klar, dass er sich mit diesem Ausspruch potentiell zum Arschloch des Beschimpften macht? Falls ja, ist es ihm egal? Weiterführend, ist dem Schimpfenden klar, dass er allen Anwesenden mitteilt, dass er sie im Konfliktfall in ihrer Abwesenheit als Arschloch beschimpfen wird? Falls ja, ist es ihm egal? Letztlich … (muss ich hier auf einen wirklich guten Abschlusssatz verzichten, der das „…, ist es ihm egal“  und das „Kurz: …“ wiederaufgenommen hätte; einfach deswegen, weil ich darin den Beschimpfer als Arschloch beschimpfe; und das will ich nichteinmal für einen guten Abschlusssatz).

Geburtstag der Lieblingstochter

Hannahs 18. Geburtstag. Ein Ereignis, das erstaunlich unemotional ablief. Zumindest nach außen hin. Eisessen mit einigen erwachsenen Bezugspersonen als Alibiveranstaltung. Ist die Teilnahme an solchen Veranstaltungen wirklich zum Wohle der teilehmenden Wesen? Oder sollte man als Yogi an dieser Stelle der Jugend nicht besser vorleben, dass es vollkommen in Ordnung ist, gegen manche Konvention zu verstoßen? Mangels Volljährigkeits-Sutra eine der Fragen, die selbst gelöst werden müssen.

Tsatsa-Malkurs in Köln

Tagebucheinträge vom 27.6.07 bis 30.6.07‎, eingesprochen 19.‎06.‎2012 (Premiere!!!)

In meinen buddhistischen Tagen bin ich sehr an Tsatsas, kleinen figürlichen Abbildungen von Buddhas und Meditationsaspekten,  interessiert. Die vier abgebildeten Tage beschreiben einen kurzen Trip nach Köln um dort an einem Kurs zum Bemalen von Tsatsas teilzunehmen. Das was ich dort über Tsatsas gelernt habe – obwohl ich den Kurs nicht besuchte – ist eingerückt und farblich markiert.

27. 6.2007, Mittwoch
Abfahrt  12:00 Uhr, Ankunft Köln 14:4x Uhr
16:00, Uhr einkaufen gehen für die Woche
18:15 Uhr, Abfahrt ins Zentrum
19:00 Uhr, vorm Zentrum, Mittwoch leider keine Medi
20:00 Uhr, wieder in der Wohnung, gemütlicher Abend bei Crichton (Welt in Angst) und TV

28.6.2007, Donnerstag
7:00 Uhr, aufstehen
8:15 Uhr, Abfahrt Wohnung
9:00 Uhr, vorm Zentrum, niemand da
10:00 Uhr, Wohnung, auf den letzten Metern einen Platten auf dem Fahrrad bekommen
11:00 Uhr, Reifen draußen, Telefongespräch mit Jochen ergab: Werkzeug ja, Flick Zeug Nein, PC zum E-Mail checken Nein
12:50 Uhr, ich bin gekommen um Tsatsas zu malen und und ich male Tsatsas. Der erste Flammenkreis um einen Diamantgeist ist fertig.

Hinweis: die farbigen Juwelen zuerst anlegen und anschließend mit Skalpell frei schaben oder korrigieren. Bei diesem Vorgehen kann die umgehende Rille mit ausgemalt werden. Loch im Ohrring genauso.

14:10 Uhr, Flick Zeug gekauft und Schlauch geflickt, anschließend montiert, dies und das, gelesen, gesessen.
16:15 Uhr, Aufbruch wegen innerer Unruhe, Schwierigkeiten bei der Einstellung der Schaltung. Rad nochmal raus und Kette auf das Ritzel.
20:00 Uhr, Zentrum. Erfahren, das Norbu nicht kommen wird. Hätte heute Morgen auch rein gekonnt wenn ich gewusst hätte, dass das Zentrum bewohnt ist  –  Eingang hier 5 m weiter links  –  und der Kurs in einer der Wohnungen stattfindet. Medi. Verabredung für morgen 10:00 Uhr.
Abends ferngesehen.

Tsatsa_Gruene-Tara

 

29.6.2007, Freitag
Früher aufgestanden als der Wecker gestellt war. 10:00 Uhr dann zum „Kurs „. Heute wäre ohnehin der letzte Tag und ich habe im Vorhinein schon beschlossen, nicht teilzunehmen. Möchte aber noch einige Infos für den Weg.

Was ich erfahre: Tsatsas anmalen ist anspruchsvoller als ich dachte. Unter anderem geht es auch darum, Fehler der Tsatsas mit Farbe und Farbgebung auszugleichen. Manche „Fehler“ sind machartbedingt, zum Beispiel Stege zum Hintergrund, et cetera. Außerdem: obwohl scheinbar dreidimensional sind manche doch nur zweidimensional, Schatten, Tiefen und Höhen müssen gesetzt werden.

Im Atelier die Arbeit Buddha-Augen, Grundierungen für die Gesichter an Buddhastatuen, Aquarelle für Lotusbilder.

Vorlagen für bemalte Tsatsas sind selten, ist eine eher neue (?) Sache und sehr aufwändig. Im Tenjur gibt es Meditationen auf die verschiedenen Aspekte, die auch detaillierte Beschreibungen enthalten. Sind allerdings nicht alle übersetzt (nicht mal ins englische) und brauchen zum Teil auch Einweihungen. Sich an Thangkas zu orientieren ist möglich, allerdings sollte ich darauf achten, dass sie aus unserer Linie stammen.

Ansonsten scheint es unausweichlich, sich mit figürlichen Zeichnen auseinanderzusetzen.  Bleistift,  Aquarell, das volle Programm eben. Üben über die VHS et cetera könnte gut sein.

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Anschließend zurück zur Wohnung. Die Stadt konnte mich nicht begeistern, zudem war es regnerisch und meine Stimmung schlecht. Etwas „Restenttäuschung“ von gestern wegen Norbus Fernbleiben, auch etwas Verärgerung deswegen. Die Begegnung heute hatte er zur Folge, dass ich mir etwas naiv vorkam, hatte ich es mir doch viel einfacher vorgestellt.

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Wieder in der Wohnung zuerst gegessen und dann geschlafen. Frustbewältigung. Gegen 15:00 Uhr dann mit dem bemalen des Diamantgeist weitergemacht. Und es ist schwierig!

  1. Die Figuren müssen besser recherchiert sein. Attribute, Kleidung, et cetera, dürfen keine Überraschung mehr bieten.
  2. Farbgebung auf Papier testen! Vielleicht auf kopierte Fotokopie der Statur oder des Tsatsas. Eventuell auch Strichzeichnung (üben!)
  3. Figur auf Trägre anbringen, damit die Ränder nicht schmutzig werden vom Anfassen.

Ab 20:15 Uhr ferngesehen. Morgen werde ich mich in den Tag trödeln, packen, putzen und staubsaugen und dann nachhause fahren.

Bahnhof Köln

30.6.2007,  Samstag
Im Zug. Obwohl völlig ungeplant aufgebrochen fast verzögerungslos zum Bahnhof und in den Zug gekommen. Das erste Mal, dass es bei dieser Aktion einfach fließt. Nicht mal feucht geworden wie mehrmals in den letzten Tagen. Soweit die guten Nachrichten.

Ich bin mir unklar darüber, was sich eigentlich erlebt habe in diesen letzten Tagen. Mit Sicherheit nicht, was ich erwartete oder erhoffte. Wie so oft stellt sich die Frage, ob die Dinger aufgrund der Erwartung so geworden sind, wie wir sie vorgefunden haben oder ob sie ohnehin so gewesen wären. O.k., wenn die Dinge leer sind, stellt sich diese Frage nicht. Dann hat die Erwartung die Brille gefärbt. Wobei Erwartung in diesem Fall vielleicht ein anderes Wort für Karma ist.

Was mich aber dazu zwingt klarer zu formulieren. Wir hätten dann die Hoffnungen in Bezug auf diesen Kurs, Größenfantasien von schnellem Erfolg und leicht zu erreichendem guten Ansehen. Der Wunsch, Teil einer Arbeitsgruppe zu sein. Ein paar Tage in entspannter und anregender Gemeinschaft zu erleben. Neue Kontakte und Anregungen.

Die Erwartung war auf undeutliche Weise eine schlechtere und begann vermutlich mit der etwas missverständlichen Ankündigungsmail und der langen Antwortzeit auf meine Nachfrage. Dann die Verschiebung und der Hinweis „dass es gut sei, Acryl- oder Guachefarben mitzubringen“, was für mich nochmal einige Investitionen bedeutete und mich angesichts der Auswahl in ziemliche Entscheidungsschwierigkeiten brachte. Und es kein smaragdgrün gab, was mich unsicher zurückließ.

Als ich Donnerstag früh auf dem Weg ins Zentrum war, brodelten also die verschiedensten Gefühle in mir. Als ich dann während des Fahrradabschließens ein „ganz schlechtes Gefühl“ bekam, war eigentlich alles dafür angelegt, dann –  vorm Zentrum stehend –  nicht zu realisieren, dass 5 m links ein Eingang mit Klingeln zu den Zentrumswohnungen war. Wusste allerdings auch nichst von Zentrumswohnungen und war im Zentrum verabredet. Als dann niemand öffnete war mir sofort klar, dass „irgendetwas schief gegangen“ sein musste. Vielleicht hatte mich eine E-Mail nicht erreicht weil ich schon unterwegs war et cetera. Da gab es  keine so einfache Lösung wie Zentrumswohnungen am Erwartungshorizont.

Abends die Medi im Zentrum. Erste Kontakte zu zwei der Kursteilnehmerinnen. Schnelle Info: Norbu kommt nicht und der Kurs läuft schon seit Montag und endet Freitag. Könnte also maximal noch einen Tag mitmachen. Stimmung sackt ab und ebenso die Freude an der Kommunikation. Genau so ist dann der Rest des Abends verlaufen, freud- und kommunikationlos.

Der Freitag war dann durch Enttäuschung und Ärger schon vorprogrammiert. Umso mehr, als ich diese Gefühle nicht mochte und gerne los geworden wäre. Was nicht gelang! Der Beginn des Kontakts dann auch eher zäh, zumindest nicht locker, eher formell. Informativ und entspannt wurde es erst im Kursraum, wo wir von genügend „Werken“ und Beispielen umgeben waren, um Interesse und Gespräch auf einfache Weise aufrecht zu erhalten. Trotzdem war nach ca. eineinhalb Stunden genug und ich verabschiedete mich.

Unterm Strich: die letzten Tage fühlen sich „ergebnislos“ an und auf unbestimmte Weise auch „ungenügend“ es hätte anders sein sollen oder ich hätte mehr draus machen müssen. Letztlich habe ich auch mit der Stadt Köln und ihren vielfältigen Angeboten nichts angefangen. Ich bin froh wieder zuhause zu sein, bald.

Reisetagebuch Indien, Boddhi Zendo, 12.1. bis 7.2.2000

Das 2. Jahr im Boddhi Zendo, die Beschreibung des ersten Jahres gibt es hier.

Perumalmalai, Palani Junction

13.1.2000, Donnerstag
Nach einer Nacht im Bus frühmorgens am Mittwoch in Perumalmalai angekommen, immer noch vom Fieber geschwächt. Zunächst war es schwierig, den Weg zu finden, aber einer der Teeverkäufer hat mich “eingefädelt” und danach ging’s nur noch geradeaus. Auf dem Weg den Berg hinauf habe ich den Sonnenaufgang sehen können, leider war ich so angestrengt vom Rucksack tragen, dass ich es nicht recht genießen konnte.

Umso schöner dann die Ankunft im Zendo. Ich kam kurz nach Beginn der ersten Meditation an (6:15 Uhr) und weil ich nicht stören wollte, ging ich ohne zu läuten hinein, nahm mir einen Stuhl im Innenhof und wartete.

Diese erste Stunde ist auch die Stunde des Dokusan und so konnte ich es einmal von außen erleben. Erst geht der Roshi  zu seinem Dokusan-Raum, kurz darauf folgen die ersten zwei seiner Schüler und warten, bis die Lehrgespräche beginnen. Mit dem Läuten der Glocke geht der erste hinein, wenn die Glocke abermals läutet ist sein Dokusan beendet und der nächste Schüler geht hinein. Der erste geht zurück in die Meditationshalle, sagt einem der noch wartenden Schüler Bescheid, setzt sich und meditiert weiter. Besonders schön war, dass gleich die ersten Schülerinnen Bekannte vom ersten Jahr waren, Angelika, Regina und Rosmarie. Alle drei über 60, das will ich erwähnen bei dem gehäuften Auftreten von Frauennamen. Es war wie ein nach Hause kommen.

Meinen ersten Handschlag erhielt ich dann vom Roshi selbst. In jedem Film wäre er auf mich zugekommen und hätte etwas in der Art von “Da bist du ja endlich nach so vielen Inkarnationen” gesagt. Stattdessen sagte er: “Uhh, I forgot your name.” Anschließend plauderten wir etwas über das Wetter, wie das traditionellerweise schon seit Jahrhunderten zwischen Schüler und Meister geschieht.

Tatsächlich ist das Wetter durchaus der Erwähnung wert. Seit fünf Tagen war Regen gefallen und mit mir kam zum ersten Mal wieder die Sonne heraus. Alle sind froh darüber. Anschließend hatte ich frei, den ganzen ersten Tag, und habe ihn zum Ausschlafen genutzt. Ich habe eine handfeste Erkältung, zum Schnupfen ist es ein trockener Husten hinzugekommen.

Beim Liegen heize ich auf, aber wenn ich mich bewege, fühle ich mich wohl. Insgesamt ist das alles lästig, aber nicht mehr bedrohlich. Zwei meiner Bekannten aus dem Vorjahr haben mir angedroht, mich zu pflegen, falls ich abbaue und für schlimmere  Komplikationen hat das Schicksal mir einen deutschen Arzt hergeschickt, der ebenfalls “sitzt”.

Kurz, ich bin gut angekommen und eigentlich kann es nur besser werden.

<O>

Es ist 3 Uhr morgens und ich bin wach, kein Wunder, wie schon beschrieben habe ich den ganzen gestrigen Tag geschlafen, dann ab 22 Uhr wieder und irgendwann muss es ja mal gut sein. Auch heute ist noch einmal frei und wenn es möglich ist, fahre ich nach Kodai um eine E-Mail abzusetzen, Helen Nachricht von meiner glücklichen Ankunft geben.

<O>

Am anderen Ende des Donnerstags war ich nicht in Kodai, fühlte mich nicht danach. Habe es vorgezogen, auch diesen Tag im Bett zu verbringen. Bin nur zu den Mahlzeiten aufgestanden, wenig Kontakt zu den anderen. Heute Abend die erste Meditation sehr unruhig, viele Gedanken, ich bin im Kopf dabei Briefe zu schreiben und nette Formulierungen zu erfinden, als sei ich nicht für mich hier, sondern dafür, es anderen zu beschreiben.

Links von mir sitzt Regine, womit ich sehr zufrieden bin. Erstens mag ich sie und zweitens sitzt sie sehr ruhig. Da kann ich mich in schwierigen Zeiten mitnehmen lassen. Rechts von mir ist noch frei und Platz für Überraschungen. Die Abläufe sind mir noch fremd. Ich muss mich erst daran erinnern, selbst die Handhaltung beim Gehen finde ich nicht mehr.

14.1.2000, Freitag
Auch bei der ersten Morgenmeditation wieder Briefe im Kopf. Ich werde sie wohl demnächst mal aufschreiben müssen, um sie loszuwerden.

Dokusan habe ich an mir vorübergehen lassen. Zur Ausrede habe ich, dass sie es etwas anders handhaben als im letzten Jahr. Keine Zeichen mehr mit dem Buch und so. Das gilt allerdings nur noch zwei Tage, während des Seshins wird es wieder sein wie gewohnt. Und “wie gewohnt” habe ich ja gerne.

<O>

Samu [Arbeit für die Gemeinschaft] war den ersten Tag im Garten, ab morgen werde ich die Gänge vor den Türen kehren.

15.01.2000 Samstag

16.01.2000 Sonntag
Es fällt mir schwer, nicht zu depressiv zu werden. Die Erkältung (und vielleicht die Depression) lastet auf mir. Glücklicherweise scheint die Sonne und ich sitze vor dem Outdoor-Oak mit Blick in die Berge.

[Es beginnt ein Brief, den ich anscheinend nicht abschließe und von dem ich nicht weiß, ob ich ihn jemals abgesandt habe, überschrieben mit:]

Letter to all – Einer für alle.

Bin glücklich und fiebrig (Erkältung) in Indien angekommen. Hier hat sich wenig verändert seit dem letzten Mal, für die Jahreszeit ist es zu heiß und die Männer tragen seltsame Röckchen. Das zu erkennen ging schnell, auch hier im Zendo gibt es große kulturelle Unterschiede.

Vielleicht am Erstaunlichsten: hier wird mit großer Selbstverständlichkeit gespült. […]. Sogar der Roshi spült seine Teller selbst, obwohl er das ja leicht von seiner europäischen Anhängerschaft erledigen lassen könnte. Ich jedenfalls würde ihm gerne die Teller waschen, wenn er mich dafür ein kleines bisschen erleuchten würde.

Aber nein, spülen und erleuchten muss sich jeder selbst. Überhaupt, das mit der Erleuchtung ist harte Arbeit und nachdem ich hier Menschen wiedergetroffen habe, die vor einem Jahr auch hier waren, vermute ich, dass es mit vier Wochen Intensivbemühung nicht getan ist. Schade eigentlich!

Ein besonderes Hindernis scheint neben den schmerzenden Beinen meine Neigung zu sein, während der Meditation an launigen Formulierungen für meine E-Mails zu denken. Dabei sollte ich eigentlich gar nicht denken (vereinfacht ausgedrückt). Hat schon meine Mutter gesagt: “Bub, du denkst zu viel.” Hat sie möglicherweise anders gemeint als der Roshi.

Das Haupthindernis aber, das EGO, muss man sich vorstellen wie die Matrix oder das Gedächtnisimplantat in Total Recall. Nur eine Illusion, aber gut gemacht. Spätestens wenn wir es für eine eigene Leistung halten, dass wir nicht mehr in die Windeln scheißen, ist die Ego-Implantation gelungen und zwingt uns im weiteren Verlauf zu beruflichem Engagement, Drogenkonsum, Diät oder Psychotherapie, die Vorlieben sind da verschieden.

Aber ich fürchte ich schweife ab. [Ende des Briefentwurfs]

Montag, der 17.01.2000

Dienstag, der 18.01.2000, 3 Uhr morgens.
Gestern Abend der Beginn des Sesshins. Noch am Nachmittag sind einige neue, und wie es scheint unerfahrene Menschen gekommen. Sie haben harte Arbeit vor sich.

So auch ich. Ich doktere an den Sachen rum, an denen man halt am Anfang rummacht. Wie sitze ich? Welche Haltung? Wie nicht denken? Zählen oder nicht? Kurz, ich bin hier am Anfang.

Dadurch, dass ich an den Tagen geschlafen habe und mein Tag-Nacht-Rhythmus verschoben ist, wache ich in den Nächten auf und bleibe wach. Mit den Gedanken bin ich oft zu Hause bei Helen. Am Platz. Die Kinder nehmen weniger Gedanken in Anspruch. Ich komme hier nicht an.

Sicher ist meine Erkältung, die sich hartnäckig hält, Ursache und Wirkung zugleich. Auf undeutliche Weise hat das mit Schuldgefühlen zu tun, weil ich schon wieder weg bin.

Und es hat zu tun mit meiner Intuition, dass ich nicht reisen sollte dieses Jahr. Dieses Gefühl war ja sehr stark und ich habe dann eine Kopfentscheidung für diese Reise gemacht. Weil ich mich von undeutlichen Ängsten, die sich auf Krankheiten oder Unfälle beziehen, nicht bestimmen lassen wollte. Zudem hatte sich Helen gerade von mir getrennt und vor mir lag ein langer depressiver Winter.

Vielleicht sagt die Intuition aber nur “Alles kommt anders, als du denkst, und du wirst diese Reise nicht genießen können“ oder “Was einmal gut war, muss in der Wiederholung nicht gut sein“.

Ohne die neuen Jungen wären wir hier ein ziemliches Altersheim, mehrheitlich Menschen über 50, oft viel älter! Da schleicht sich die Frage ein, was ich hier eigentlich will. Denn fortsetzen werde ich die Praxis zu Hause nicht, so viel scheint mir festzustehen.

“Die Alten” sind anscheinend aber bereit, viel Zeit aufzuwenden, haben sie vielleicht auch eher (Quatsch, ich habe alle Zeit der Welt). Letztlich, vielleicht sind sie auch näher dran an Krankheit, Alter und Tod.

Mein Start hier in der ersten Woche war von vier annähernd freien Tagen begleitet, was wegen der Erkältung gut war, mir aber andererseits zu viel Luft für depressive Gedanken gelassen hat. Ich will nicht depressiv sein. Vielleicht heisst so das Problem. Ich will nicht durchhängen, aber ich tue es und diese Woche wurde das auch durch meditatives Nicht-Tun nur schwach verdeckt.

“Wenn ich schon nichts tue, dann will ich wenigstens das richtig tun, nämlich meditativ.“ So war mein Ansatz vom letzten Jahr. Wie der Ansatz dieses Jahr heißt, weiß ich nicht. Da war ja zunächst nur dieses Darübernachdenken, ob es noch mal Sinn machen würde [, ein weiteres Mal ins Zendo zu kommen].

Was sich nach außen als „Vielleicht mache ich das noch mal”  geäußert hat. Auch Helen gegenüber musste ich die Möglichkeiten offen halten, weil “nicht gehen“ dann einfacher wäre als im umgekehrten Fall (Ich will das nicht noch mal) dann doch zu gehen.

Interessanterweise hat dann diese offen gehaltene Tür Eberhard erlaubt, den Fuß dazwischen zu stellen: “Magst du das nicht mit Bangladesch verbinden, denn da möchte ich gerne noch mal hin?“ Eigentlich hat sich da nur eine offen gehaltene Möglichkeit in meinem Leben verselbstständigt, gewissermaßen einen unerwarteten Zug entwickelt.

Diese Zugkraft zu entwickeln war aber nur möglich, weil ich „allein“ war, verlassen und ohne Aussicht auf Besserung. Ich wollte, ich könnte an dieser Stelle klarere Gedanken entwickelt. Es gibt einen Anteil Helens, der mitverursachend für diese Reise ist (sie würde das vermutlich empört abstreiten).

Gesetzt der Fall, die damalige Trennung von mir wäre – und sei es nur zum Teil – bedingt gewesen durch die Angst vor dieser Reise. Dann hätten wir es mit einer klassischen neurotischen Grundstruktur zu tun, die hervorruft, was sie abwenden will. Ich traue uns so etwas zu.

Soweit zum Ansatz, warum ich eigentlich hier im Zendo bin, möglicherweise aus Versehen, neurotischerseits.

Dass ich meiner Winterdepression auch in Indien nicht entgehen kann, wäre vorhersehbar gewesen.  Dass ich jetzt, da ich bald aufstehen muss, langsam beginne müde zu werden, auch. Nennenswerte Gedanken. Keine mehr.

<O>

Erste Meditationseinheit: heftige sexuelle Fantasien. Geht die Zeit sehr angenehm bei rum! Bleibt aber auch die Erkenntnis, dass Helen und ich unsere Möglichkeiten noch lange nicht ausgereizt haben.

Die Erkältung hält immer noch an, Schnupfen und Husten. Kaum noch der Erwähnung wert, weil gutmütig im Hintergrund. Im Vordergrund immer wieder fiebrige Schübe und ein unglaubliches Schlafbedürfnis. Ich bin in ganz ungewohnter Weise geschwächt.

Im Laufe des gestrigen Tages hat sich ein Druck im linken Unterkiefer spürbar gemacht, den ich jetzt für den Auslöser all meiner Kränkelei halte. Irgendeine Entzündung im Unterkiefer. Gerne würde ich mal mit jemand darüber reden. Aber während des Sesshins ist das nur schwer möglich. Ich hoffe, dass ich nach dem Sesshin die Entzündung mit Antibiotika platt machen kann. Wenn das so einfach geht, ich muss mich beraten lassen. Als einer der jüngeren hier sollte ich bei den älteren genügend medizinische Erfahrung finden.

Im Moment beginnen Kopfschmerzen, auch das eine neue Erfahrung. Ebenfalls links, genau wie die Nebenhöhle, von der ich kurz befürchtete, sie sei der entzündliche Übeltäter. Ich glaube aber, dass ich die Nebenhöhle mit Imaginationen während der Meditation frei gekriegt habe.

Mit dem Unterkiefer will das bis jetzt nicht gelingen. Vielleicht fehlt mir das richtige Bild oder irgendetwas anderes. Alles sehr unklar, das!

Jetzt kehren!

<O>

Heute Nachmittag Eucharistie. Wollte ursprünglich nicht teilnehmen, saß dann aber auf einmal doch drin, weil ich auf der Ankündigung mal wieder Thursday mit Tuesday verwechselt habe. Und dann Reginas Ankündigung falsch verstand.

Habe also den Gottesdienst mitgemacht und gegen Ende gibt es dann ja Blut und Fleisch Christi. Hatte beschlossen, das ganze Programm mitzumachen und als ich dann plötzlich die Hostien und den Wein vor mir hatte, habe ich es erst begriffen: Wein, Hostien darin eintunken, essen und weitergeben.  Kein Gottesdienst, sondern der lustigste Rückfall der Welt.

Interessant ist , dass wirklich sofort der Gedanke kam, die Erfahrung zu wiederholen. Nur ein Glas Wein, vielleicht mal als Stimmungsaufheller? Nein, das werde ich wohl lassen. Aber die Lust auf “mehr” war wirklich sofort da.

<O>

Heute Mittag abermals starke Kopfschmerzen links, die circa eine Stunde anhielten und dann wieder verschwanden. Stärke so, dass ich über Schmerzmittel nachgedacht habe. Könnte sein, dass sie gerade wieder beginnen. Vermutlich komme ich aber früh genug ins Bett, nur noch ein Stündchen meditieren.

Donnerstag, 20.01.2000

Freitag, 21.01.2000

Samstag, 22.01.2000
Einige unsortierte Gedanken.

Internet absuchen nach

      • Fuller und Dome
      • Hofstadters Metamagicum.
      • Wing Chun
      • Zendo

Seiten sammeln, die über Dinge berichten, die mich mal mehr beschäftigt haben. Verweist auf digitale Darstellung meines Lebens

      • Zwiegespräch,  Excerpt machen, Helen darüber schreiben
      • Idee Kursangebot umsonst und draussen
      • Werkzeug zurückziehen und sortieren
      • Eventuell Kinderwagen ebenfalls an großen Wagen anschließen
      • Finanzplanung neu, wofür will ich Geld ausgeben?

Mir gehen unglaublich viele Dinge während der Meditation im Kopf herum. Ist dann gewiss nicht mehr Zen. Nennen wir es Introspektion! Soll ja auch heilsam sein. Und gleich geht’s weiter.

Sonntag 23.01.2000, morgens
Ende der Sesshins nach dem Frühstück.

Zwischendrin habe ich einen Tag verloren, war der festen Überzeugung, dass heute Samstag sei und das Sesshin einen Tag früher als geplant endete. Ist aber nicht so, wie ich mir glaubhaft versichern ließ. Insgesamt ist dieses Sesshin von meinen “verschieden” Krankheiten überschattet gewesen und wenig “erfolgreich” im Sinne der Zen-Meditation. Wenig bei meinem Atem geblieben, immer wieder die “Vermehrung der Begriffe” (sich in Gedanken verlieren). Manchmal erlaube ich mir das auch mal, es kann entspannend sein oder auch von schmerzenden Knien ablenken.

Auf der positiven Seite steht, ob Zen oder nicht, dass es mir relativ leicht gefallen ist, die langen Zeiten durchzumeditieren oder zumindest von außen den Eindruck zu erwecken. Ich neige dazu, meine Leistung abzuwerten, bemerke ich gerade. Auch eine solch lange Zeit der Introspektion ist einiges wert.

<O>

Gedanken an […, der mich mal sehr verletzt hat]

Für welche Teile unserer Geschichte könnte ich mich von den “Begriffen” trennen, den Erwartungen, den Vorstellungen, wie etwas zu sein hat. Zum Beispiel Freundschaft. Und wo ist Vergebung möglich? Ich glaube, Vergebung ist mir möglich, aber da ist die große Angst vor der Wiederholung, die Angst, abermals verletzt zu werden.

Da ist auf kindlichem Niveau ein “Ich will wieder gut mit dir sein, wenn du mir versprichst, das nie wieder zu tun.”

Montag, 24.1.2000
Mein Leben kommt mir sehr klein und nichtig, wertlos vor. Nichts womit ich renommieren könnte. Oder zumindest nichts, womit ich vor mir selbst renommieren und bestehen könnte. Was habe ich getan? Was habe ich in die Welt gebracht? Wie wenig da ist!

Wechsel vom Brief zum Tagebuch. Der Brief soll positiv bleiben und zumindest nicht zu depressiv werden. Sitze vorm Blatt und springe von Gedanken zu Gedanken, wie ich das manchmal auch während der Meditation mache.

Viel lieber aber wäre ich in unserem Gemeinschaftsraum, die Füße auf den Ofen gelegt und mit irgendwem über irgendein nichtiges Etwas ein Gespräch führen. Bewirkt Meditation irgendetwas bei mir? Im Moment zumindest geht es mir schlechter als gewohnt. Depressive Gedanken, Gefühle des Unwerts.

Dienstag 25.01.2000
Hepar sulfuris, alle drei Stunden drei Kügelchen für zwei Tage.

Mittwoch, 26.01.2000
Wanderung zum Peak.

Donnerstag 27.01.2000
D.E. Harding Book of Leben und Tod.
Leseempfehlung des Roshi.

Heute fragt Ama Sami mich, was ich gerade lese und bietet anschließend an, mir Literatur zu empfehlen (siehe oben). Ich solle das mal lesen, wir könnten darüber reden, “beside the tea” und dann “maybe he would give me another one.” Ach ja! Das Gewechsel zwischen Englisch und Deutsch.

Ich finde es schön, dass er auf mich zugekommen ist, wenngleich es mich auch etwas unter Druck setzt. Zumindest muss ich mich ja formulieren in Bezug auf das Gelesene. Und das ist nicht immer einfach. Vielfach habe ich ähnliches ja schon gelesen, vielleicht sogar verstanden in dem Sinn, wie es einst hingeschrieben war. Nur erfahren habe ich es gewiss noch nicht. Wie also sich darüber äußern?

Morgen kommen 15 Schüler von der Kodai-Schule und ich habe erstmals Misstrauen in mir gespürt. Mein Geld, das die ganze Zeit in einem unverschlossenen Zimmer lag, versteckt. Die Jungen sind ja manchmal weniger gefestigt, sage ich mir.

Muss ich mir darüber Gedanken machen? So wenig wie über anderes.

In mir scheint etwas zu sein, dass einen Ausgleich zur Heiligkeit sucht. So wie ich damals nach meiner Zendo-Zeit in diesen dusseligen Horrorfilm musste. Habe mich eben lange damit entspannt, die mitgebrachten Pin-up-Girls anzuschauen (nach der Lektüre eines Teils der vom Roshi empfohlenen Literatur).

[… .] Trotzdem, meine Libido ist ruhelos am hin- und herschweifen. Selbst an alte Frauen heftet sie sich, wenn keine jungen da sind. Und hier sind gerade keine jungen. Obwohl, Amelie ist heute wiedergekommen. Nun, auf diese Weise habe ich in “jungen” Jahren schon erfahren dürfen, wie der alte Schwerenöter dann die gleichaltrigen Frauen anschauen wird. Und auch im Alter gibt es grosse Unterschiede. Manchen der alten Damen hier sieht man noch an, wie schön sie einmal gewesen sein müssen. Es wäre richtiger zu sagen, dass sie noch immer schön sind, nur eben gealtert.

Ein anderes großes Thema neben den Frauen ist Gewalt und Rache. Das geht mir im Kopf herum. […, der Typ], den ich an die Wand gestellt habe [und aufgrund dessen ich dann einigen Ärger hatte], ruft Rachegelüste in mir hervor. Zugleich auch die Gewissheit, dass jede Rache in letzter Konsequenz auf mich zurückfallen würde. Also nichts mit Rache. Aber schwer, sich davon zu trennen.

Und dann Gedanken an […], überhaupt nicht zu lösen, alle Probleme, die ihn betreffen. Weil da keine Vernunft ist, kein gemeinsames Weltbild, nur Wahn. Vielleicht wäre ich in einer ähnlichen Welt wie er, wenn ich meine Rachegedanken für Realität oder echte Pläne halten würde. Wenn ich versuchen würde, sie auszuführen. Wie leicht es ist, sich im Wahn zu verlieren.

Aber es bleibt das Gefühl der Bedrohung, die von ihm ausgeht, und mir fällt nichts anderes ein, als Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Was überhaupt keine Lösung sein kann. Vielleicht hat der Buddha Sex & Crime vergessen in seiner Aufzählungen der wirklichen Probleme.

Freitag, 28.1.2000
Habe eben hinten [ins Tagebuch] Hannahs Bild und ihren Erinnerungszettel für mich eingeklebt. Vielleicht weil ich mich einsam fühle und gerne zu Hause wäre. Eine sentimentale Aufwallung. Ein Anfall von Weinerlichkeit. Wie auch immer, ich glaube, die nächsten Jahre werde ich zu Hause bleiben oder Helen und die Kinder mitnehmen (oder nur Helen oder ganz jemand anderen, falls Sie mich zum Teufel jagt).

Ich muss diese letzte Klammer schreiben. Ich bin mir ihrer nicht mehr auf selbstverständliche Art und Weise sicher, obwohl ich es gerne wäre. Aber das ist zuerst intellektuell und letztlich auch aus Erfahrung nicht möglich.

[…] Vor mir auf dem Schreibtisch liegt aufgeschlagen der Wasserfarbkasten, daneben mehrere vorbereitete Untergründe für Mandalas. Aber nichts zieht mich an. Der Gedanke an das Malen langweilt mich schon. Keine neuen Ideen in mir und wenig Antrieb, die alten zu wiederholen. Mir fällt dieser Tipp ein, mit dem Kulturschock umzugehen. Nein, ich habe keinen! Es wäre ratsam, sich Dinge mitzunehmen (Kassetten, Bücher, Sportzubehör, etc.) mit deren Hilfe man sich seiner Identität versichern könne. Dinge, die man zu Hause mag und die auch im Ausland funktionieren. Der Farbkasten ist ein fehlgeschlagener Versuch, diesem Tipp nachzugehen. Ansonsten ist da nicht viel, das Tagebuch noch und ein deutsches Buch, das ich endlich nicht nur lesen, sondern auch verstehen will.

Nein, das einzige, was funktioniert, um mich zu fühlen, wie ich mich manchmal zu Hause fühle, ist die Form [eine festgelegte Abfolge von Bewegungen, die der Automatisierung eben dieser Bewegungen im Kampf dient]. Sie gibt mir ein Gefühl der Identität, des Ich-Seins. Aber man kann nicht dauernd die Form machen und die Wirkung ist ja auch nur begrenzt.

All das bestätigt natürlich die buddhistische Sicht, das Fehlen eines Ich. Da ist kein Günther übrig, wenn man ihn aus seiner gewohnten Umgebung nimmt. Da formt sich etwas Anderes, Neues in einer neuen Umgebung, das sich gewohnheitsmässig Günther nennen lässt, gewiss auch äußere und innere Ähnlichkeiten aufweist, zu dem, der vorher war. Aber doch unterschieden von vorher ist, wie die vorherige Umgebung zur jetzigen. Es gibt keinen inneren Kern des Günther-seins. Es gibt nur ein Ego, das sich für Günther hält und dem das Beschriebene gar nicht gefällt und das sich durchaus in Erinnerung bringt.

Durch Missstimmungen wie der gegenwärtigen (“Bring mich heim, dorthin, wo ich unzweifelhaft existiere!”) oder durch Fantasien von Allmacht und Ohnmacht.

<O>

Frischer Wind in unserer kleinen Gemeinde. “The students” sind da, eine Gruppe indischer Schüler, die sich drei Tage lang Meditation anschauen. Ziemliche Unruhe, keiner weiß, wie und wo. Bis jetzt sind die Untergruppen noch getrennt. Aber mehr als ein Abendessen hatten wir ja auch noch nicht zusammen. Zusammen mit den “students” sind zwei deutsche Zimmerleute gekommen, die hier in Indien auf der Walz sind. Machen in der Schule den Spielplatz neu. Und nehmen jetzt eben auch die Zen-Meditation mit.

Für die Youngsters gibt’s heute Abend eine leicht veränderten Ablauf, zweimal 15 Minuten, danach Ende für Sie und nochmal 25 Minuten für uns, die wir die Nummer hier gewohnt sind.

Samstag, 29.1.2000
Die 25 Minuten für uns wurden dann doch abgehängt, vermutlich einfach so. Aber trotzdem ein Zeichen, dass es “wir” und “sie” so wenig gibt wie “ich” und „du“.

Sonntag, 30.1.2000
Montag, 31.1.2000
Dienstag,1.2.200
Mittwoch 2.2.2000

Donnerstag, 3.2.2000
Vielleicht ist auch das Zen, tagelang nichts mitzuteilen zu haben. Entleerung? Was-auch-immer, im Übermaß ist es schwer auszuhalten. Wenn ich zu lange schweige, gehe ich mir verloren. Selten so deutlich erlebt, wie wir alle uns immer wieder durch Kommunikation erschaffen. Wie wir diese Oberfläche erschaffen, an die andere ihre Vorstellungen und Erwartungen heften können. Und die uns selbst Stabilität gibt.

Oder: ich gebe dem Gegenüber eine Vorstellung von mir. Ich übermittle ihm meinen Wert (gelegentlich wohl auch Unwert) in der Hoffnung, dass er mich in dieser Vorstellung von mir bestätigt und wertschätzt

Umgekehrt: Wenn der andere nichts über mich weiß, weiß auch ich weder mich noch ihn einzuschätzen.

Ein wichtiger Teil meiner Identität ist es, Wagenbewohner zu sein. Wagenbewohner zu sein hat für meine Selbstdarstellung den Wert eines Berufs. Dies ist es, was ich zuerst über mich mitteilen möchte. Ich lebe im Wagen. Erst danach kommt die Familie. Und dann vielleicht meine Vielseitigkeit, dokumentiert durch meine Berufe und Jobs und Fähigkeiten.

Zuletzt [im Sinne von am Wenigsten] möchte ich mitteilen (oft zuerst erfragt), dass ich mit all meinen Fähigkeiten doch abhängig von der Arbeitslosenhilfe bin. Ein Makel heftet daran. Je nach Laune kann ich das anerkennen oder abstreiten. Am Ende aller inneren und äußeren Diskussion bleibt die Frage, was ich der Gesellschaft zurückgebe dafür, dass sie mich alimentiert.

Das ist nicht nichts, aber es bleibt oft das Gefühl, es sei zu wenig. Aber mit diesem Gefühl, nicht zu genügen, bin ich aufgewachsen. Also: “nicht genug” gemessen an welchem Maßstab?

Diesen Maßstab zu erarbeiten, könnte eine interessante Aufgabe sein. Beginnen wir (wer noch?) mit dem Geld. Sagen wir, besser: ich, meine Arbeitsstunde ist 25 Mark wert. Bei 1600 D-Mark monatlich schulde ich der Gesellschaft 64 Arbeitsstunden pro Monat, heisst 16 Stunden pro Woche (grob gerechnet) oder zwei Arbeitstage.

Zwei Arbeitstage sollten also ausgefüllt sein mit Tätigkeiten, die im weitesten Sinn der Gesellschaft zugutekommen.

Also:

  1. Welche Tätigkeiten, egal ob bezahlt oder unbezahlt, kommen der Gesellschaft zugute?
  2. Welche davon übe ich aus? In der Beantwortung werden wohl beide Fragen zusammenkommen.

Brainstorming: ehrenamtliche Arbeit, Erziehungsarbeit, Sozialarbeit, Umweltschutz, Bildungsarbeit individuelle Hilfe.

Zwischenfrage für den Erbsenzähler: Diejenigen Tätigkeiten, die andere Berufstätige nebenbei erledigen, darf ich mir die so ohne weiteres gutschreiben? Diese Frage erstmal vernachlässigen, aber im Auge behalten.

Gesellschaftlich nützliche Tätigkeiten
Ehrenamt
Nehmen wir die Arbeit im Weltladen. Unbezahlte Bildungsarbeit, die von gesellschaftlich anerkannten Institutionen immerhin mit großen Beträgen bezuschusst, das heißt wertgeschätzt wird. (Und schon taucht wieder eine Zwischenfrage auf. Wie drückt sich die gesellschaftliche Wertschätzung einer Tätigkeit aus? Zuschüsse, Steuererleichterungen, Rentenausfallzeiten, allgemeine Anerkennung und soziale Einbindung, was noch?)

Soweit diese Wertschätzung benennbar und nachvollziehbar ist, ist sie in der „rechtfertigenden“ Diskussion ein großer Pluspunkt. Für jede Vereinsarbeit bedeutet das, dass Gemeinnützigkeit ein wichtiges Kriterium ist. Okay, die Arbeit im Weltladen ist also unzweifelhaft gute und nützliche Arbeit. Bei entsprechender Ausweitung des Engagements könnte ich auf einen Arbeitstag bzw. 8 Stunden kommen.

Wie ist das mit der Vereinsarbeit für den Pool [der Wagenplatz, auf dem ich lebe]? Zunächst ist der gesellschaftliche Wert nicht durch Gemeinnützigkeit dokumentiert, vordergründig werden nur eigene Vorteile geschaffen. Für die Gesellschaft fallen nur Brotkrumen ab, als da wären: Erhaltung der kulturellen Vielfalt, Lebenswelt für Aussenseiter (Wagenplatz statt Neurose), sparsamer Umgang mit den Ressourcen (Strom, Wasser, Energieeinsatz für Wohnraum) Erkundung von alternativen Techniken und Lebensweisen, Modellcharakter, Umweltschutz, soziale Gestaltung, Solidarität. Kurz: der gesellschaftliche Nutzen, wiewohl deutlich erspürt von jedem der sich nähert, ist nur schwer und abstrakt zu fassen, manchmal strittig oder sogar abzustreiten.

Wie ist das mit der Sozialarbeit, die ich dort leiste, einfach deshalb, weil ich dort bin, Sozialpädagoge bin und gar nicht anders kann, als sozialpädagogisch auf die Menschen einzuwirken. Da entsteht gesellschaftlicher Nutzen. Aber wie lange am Tag bin ich am Platz Sozialpädagoge und wie lange selbst Sozialfall? Sagen wir eine Viertelstunde pro Tag, sonntags frei, macht eineinhalb Stunden pro Woche.

Was ist mit Umweltschutz? Gesetzt der Fall, wir bauen den Pool zurück. Ist das gesellschaftlich nützliche Arbeit? Ich glaube ja, obwohl wir als Gruppe zunächst den größten Vorteil davon haben: den Ausblick. Aber darüber hinaus gewinnt auch das uns umgebenden Naturschutzgebiet ein feuchtes Fleckchen hinzu. Wenn eine Zusammenarbeit mit den Schlammspringern zustande kommt, wird dieser gesellschaftliche Nutzen noch besser dokumentierbar sein. (Zwischengedanke: die Zusammenarbeit mit gemeinnützigen Gruppen sollte irgendwie in die Betrachtung eingehen.)

Nebenbei: Unsere Waschmaschinen-Klo-Kombination dürfte in der Form bis jetzt auch unerprobt und einmalig sein.

Zurück zum Teich, jede Stunde Arbeit daran ist gesellschaftlich nützlich.

Was ist mit der Erziehungsarbeit? Gesellschaftlich nützlich auf jeden Fall. Aber wie bewerten. Die Kinder zu fördern, so gut es geht, ist ihr eingeborenes Recht. Und auch ausdrücklicher Wille der meisten Eltern. Dass Frauen dafür Anerkennung und finanzielle Gegenleistung bekommen sollten, ist den meisten Menschen noch zu vermitteln.  Aber arbeitslose Väter? Natürlich, Väter, die sich kümmern, bekommen Anerkennung. Aber den gesellschaftlichen Nutzen dafür anzuerkennen ist wohl verschieden davon. Es sind ja die eigenen Kinder, wiewohl auch deren in der Welt stehen das Bild der zukünftigen Welt zum guten oder schlechten prägt.

Kurz, ich glaube Erziehungsarbeit als Arbeit in das Bewusstsein zu heben, ist als Mann nur schwer zu leisten. Das muss (und kann besser) von Frauen geleistet werden.

Bleibt die individuelle Hilfe? Was meine ich überhaupt damit? Nachbarschaftshilfe, alten Omas über die Straße helfen? In Notfällen (welchen?) aushelfen, einfach ein guter und hilfreicher Mensch sein. Nein, da fällt mir jetzt nichts mehr ein. Undeutlich alles, wo die Gesellschaft einspringen müsste, es aber nicht tut. (Gedanke: Wie wäre die Mitarbeit an einem Tauschring aufzufassen?)

Bleibt am Ende dieses Eintrags die Erkenntnis, dass gesellschaftlich nützliche Arbeit am leichtesten dort zu vermitteln bzw. zum Zwecke der Rechtfertigung der eigenen Arbeitslosigkeit zu gebrauchen ist, wo sie im Rahmen von als gemeinnützig eingetragenen Vereinen geschieht oder von anerkannten gesellschaftlichen Institutionen bezuschusst wird. Darüber hinaus käme noch das Engagement in Parteien, Bürgerinitiativen oder Aktionsgruppen in Frage, die sich gerade aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen widmen. Daraus folgt:

  1. Weltladenarbeit weitermachen
  2. gemeinnützigen Förderverein für Wagenkultur gründen (damit habe ich den gesellschaftlichen Nutzen vor meiner Tür!)
  3. Arbeit am Teich beginnen.
  4. Legalisierung des Platzes weiter betreiben (das heißt der Gesellschaft eine weitere Lebensweise auch formal einfügen.)

All das Beschriebene ist natürlich für ein Leben genug. Und wo bleiben meine Umbaupläne und der Ausbau der Häuser?  Und mein Interesse fürs Internet und Computertechnologie. Es gilt noch einmal, darüber nachzudenken. Dies aber nicht heute.

4.2.2000, Freitag
5.2.2000, Samstag
6.2 2000, Sonntag

7.2.2000, Montag
Letzter Tag heute. Morgen Aufbruch um 6 Uhr mit dem Jeep zur Busstation, die nach Dindigul führt, von dort nach Chennai. Bin von einigen Menschen hier sehr herzlich verabschiedet worden. Immer wieder die Frage nach dem “nächsten Jahr”. Eigentlich käme ich gerne mit Helen hierher. Aber dann müssten die Kinder versorgt sein. Ob meine Mutter …? Aber für wie lange? Vier bis sechs Wochen müssten schon sein. Nein, was im nächsten Jahr ist, lässt sich jetzt noch nicht wissen.

Hinzu kommt, dass ich noch nicht so recht weiß, was ich von den diesjährigen vier Wochen halten soll. Meine Meditationspraxis hat sich ganz sicher nicht vertieft. Dazu bin ich viel zu oft und viel zu gerne in meinen Fantasien und Gedanken abgetrieben. Habe viel geträumt, diese vier Wochen, stundenlang dagesessen und geträumt. Nun ist natürlich auch das Praxis, nennen wir es mal einen träumenden Buddha. Aber der träumende Buddha ist unzufrieden mit sich. Also ein unzufriedener Buddha, ein Buddha, der sich selbst Vorwürfe macht (Hätte mehr tun können etc.)

Ich weiß also jetzt, wie ich mich wochenlang in Fantasien flüchten kann. Ich kann in und mit meinen Fantasien leben. Sie sind mir so lieb wie das wirkliche Leben. Ich hänge an ihnen. Ich träume mein Leben vorbei.

Das geht auch zu Hause hinter dem Ofen. Fast noch besser dort, nur fällt mir dort nicht ein, zum Atem zurückzukehren, wenn ich unzufrieden werde. Warten wir ab, wie sich diese Erfahrung des Träumens in meinem Leben auswirkt.

Update (31.3.2023): Der dritte und zugleich letzte Teil ist veröffentlicht, wie zuvor mit Einleitung am Veröffentlichungstag und den chronologisch einsortierten Tagebucheinträgen.