Mit neunzehn Jahren zog ich von zuhause aus. Ein zufälliger Lehrstand und ein Bekannter bei der Wohnungsbaugesellschaft machten es möglich, gemeinsam mit meiner Freundin die Wohnung zu beziehen, in der ich aufgewachsen war. Nebenbei, unverheiratet zusammen zu ziehen war zu dieser Zeit noch nicht problemlos möglich und wir mussten unsere (nicht vorhandene) Heiratswilligkeit durch die Bestellung des Aufgebots belegen. Die Bilder sind alleine wegen der Tapetenmuster schon sehenswert.
Die frühen Jahre
An dieser Stelle möchte ich meine persönliche Wohngeschichte mit ein paar Bildern illustrieren. Diese Geschichte beginnt in einem Frankfurter Wohnort in einer Wohnanlage, den „Blöcken“. Die Gegend zählte nicht eindeutig zu den guten oder den schlechten, hier lebten Arbeiter und kleine Angestellte. Der Lebensmittelladen und der Metzger waren „über die Straße“, und die war so wenig befahren, dass ich auch als fünfjähriger mal alleine zum Metzger geschickt wurde.
Das Bild hat gleich zu zwei Wohnungen bezug, in denen ich gewohnt habe. Zunächst zeigt es ein Fenster der Wohnung, in der ich aufgewachsen bin (am linken Bildrand, Paterre). In dieser Wohnung hatte ich ab dem elften Lebensjahr behelfsmässig die Mansarde der für vier Personen viel zu kleinen Zweizimmerwohnung bewohnt. Diese Mansarde war fünf (!) Quadratmeter groß, was vor und neben dem Bett gerade 50 cm zum Laufen lies. Trotz der Enge war ich nicht unzufrieden mit der Lösung, erlaubte sie mir doch, mich wann immer ich das wollte zurück zu ziehen.
Als ich fünfzehn war zogen meine Eltern in eine größere Wohnung im gleichen Block, aus deren Fenster das obige Foto aufgenommen wurde. Hier hatte ich mein erstes eigenes Zimmer, das den Namen auch verdiente. Auf dem Bild ist am oberen Rand eine handgefertigte Hausapotheke zu sehen, die einer meiner Vorfahren gebaut hat und die ihr auf späteren Bildern nochmals finden werdet. Sie begleitet mich bis heute.
Die Motorradzeit
Bearbeitetes Transkript einer mündlichen Schilderung, aufgenommen im Jahr 2022, also rund 50 Jahre später. Ich habe versucht, so nahe wie möglich am gesprochenen Wort zu bleiben. Mehr dazu hier.
„Als ich mit 16 mein erstes Motorrädchen bekommen habe, habe ich über einen Bekannten von meinem Vater eine uralte Lederjacke gekriegt. Das heisst, die war zu dem Zeitpunkt schon 40 Jahre alt, die habe ich immer noch im Schrank hängen. Und das war die, die ich dann trug. Also ich erinnere mich nicht, zumindest durch meine Motorradzeit hindurch nicht, wann ich irgendwann etwas anderes getragen hätte. Und auch lange, lange danach noch.
Das ist auch so ein riesiges Renovierungsprojekt. Regelmässig denke ich, ich muss endlich mal jemand finden, der mir da wieder ein Futter einnähen kann. Die passt noch, nur hat sie um den Bauch herum einen Schnitt, den ich so nicht mehr haben würde. Weil sie da irgendwie zu sehr absteht, keine Ahnung, weil da der Nierengurt noch drunter musste oder was auch immer.
Aber wegen der Lederjacke brauchte ich keine Jeansjacke. Und wenn, dann hätte man eventuell ja eher so eine mit abgeschnittenen Ärmeln gehabt – über der Lederjacke. Das war aber auch zu sehr die Rockerecke. An die ich mich nie weit genug angenähert habe. Weil das vergleichsweise …
Also diese Motorrädchen und die Frankfurter Stadtteile, die sich dann kollektiv mit ihren Motorrädchen in den jeweiligen Jugendzentren gegenseitig besucht haben, man kann auch sagen überfielen. „Hey, wir fahren nach Sachsenhausen und gehen da mal ins Jugendzentrum und dann gucken wir mal“, oder umgekehrt. Das habe ich nur wenige Male mitgemacht, weil meine Szene da nicht nah genug dran war. Außerdem wohnte ich in Höchst und die waren nicht wirklich bedeutend in dieser Szene. Und es war einfach blöd, irgendwo hinzufahren und sich mit anderen zu prügeln oder wenigstens rumzupöbeln.
Das, was wir hatten, das waren so ein paar lose assoziierte Motorradfahrer. Eigentlich Kleinkrafträder, also 50-Kubik-Maschinchen, das will man nicht wirklich als Motorrad bezeichnen. Wir waren zwischen 16 und 18 zu dem Zeitpunkt. Die Leute, die älter waren und schon große Motorräder fuhren, das waren dann 350er oder 500er, fanden wir schwierig. Vor allem wegen den Mädels, weil die Mädels fanden das toll. Das heisst, man hat nicht wirklich so den Kontakt gesucht. Ab und zu kam halt mal einer vorbei und dann musste man sich damit auseinandersetzen.
In Höchst gab es ein Jugendzentrum, aber das war nicht der Ort, an dem wir uns herumtrieben. Wir hatten den Marktplatz. Die Mutter von einem der Mädels hatte den Kiosk da am Marktplatz und aus dem Grund hatte er sich dann irgendwann zum informellen Treffpunkt entwickelt. Handys gab’s noch nicht, das heisst man wusste nicht, wo die anderen waren. Man fuhr halt irgendwo hin, wenn man Zeit hatte, und das war bei uns der Marktplatz. Dort gabe am Kiosk Getränke und Infos, wir waren die Marktplatz-Clique.
Das war auch nicht lang, höchstens zwei Sommer, an denen wir uns da getroffen haben und von dort dann, keine Ahnung, zum Baggersee gefahren sind oder sonst irgendwas getrieben haben. Irgendwann hatten wir auch Kontakt bekommen zu Landjugendleuten, die auf dem Ort wohnten und in einem alten Stall einen Partyraum hatten. Oft, dass man dann dahin gefahren ist, aber man hat sich am Marktplatz getroffen und entschieden, was man macht. Und dann ging das dahin.
War eine geile Zeit. War auch die einzige Zeit, wo ich mich irgendwie zu einer Freundesgruppe zugehörig gefühlt habe. Das war mit Abschluss der Motorradzeit, also mit 18, schon wieder rum. Weil dann etwas anderes anfing. Dann fingen nämlich die ersten festen Beziehungen an.“
Damals …
… waren die Halbstarken noch Ganzstarke!
Meine Tochter hat mir auf formspring.de die folgende Frage – deren Antwort an diese Stelle passt – gestellt.
Was ist wohl das Unbedachteste oder Bescheuertste, das du in deinem bisherigen Leben angestellst hast? Und wissen deine Kinder davon?
Nein, wissen sie nicht. Dabei wird die Antwort nicht sonderlich aufregend sein, fast schon eine Banalität. Trotzdem habe ich lange gebraucht, sie zu finden. (…)
(…)
Das wohl unbedachteste und bescheuertste meines bisherigen Lebens ist die Art und Weise, wie ich zwischen 16 und 18 Jahren Motorrad gefahren bin. Das „Motorrad“ war eigentlich ein Kleinkraftrad, 50 Kubik und 80 Km/h schnell. Gerade schnell genug, um damit in der Stadt zu schnell fahren zu können, rücksichtslos sowieso und natürlich immer ohne Helm. Damals gab es noch keine Helmpflicht und die langen Haare im Fahrtwind, das kam einfach gut. In einem meiner Fotoalben habe ich noch einen Stadtplan des Frankfurter Vororts, in dem ich aufgewachsen bin. Darauf 16 (sechzehn) Kreuze, die Orte kennzeichnen, an denen ich mit meinem Motorrad gestürzt bin. Es gibt einen 17. Sturz außerhalb dieser Karte. Als ich die Kreuze einzeichnete war ich noch stolz darauf. Kein Gedanke, dass ich vielleicht ein schlechter Fahrer sei, denn schließlich war ich bei allen Stürzen entweder betrunken oder es regnete. Da kann sowas schon mal vorkommen. Echt bescheuert. Risiken einzugehen, die man nicht abschätzen kann, ist bescheuert (nicht die Risiken, sondern das nicht abschätzen können). Doppelt bescheuert, wenn man nicht nur sich selbst, sondern auch andere gefährdet. Hab ich getan, zwei Jahre lang, war bescheuert, nummer-eins-bscheuert.
OK, für alle, denen die Antwort zu langweilig ist, noch ein Schwank aus der Anekdotensammlung. Gibt keine Pointe, ich sag das gleich, dann müsst ihr auch keine erwarten, ist mehr so ein Haben-wir-mal-gemacht-Ding. Gleiche Zeit wie oben, die gleichen Motorräder und gleichen bescheuerten Jugendlichen. Ich und Freund P., sommerabends und betrunken, … Nein, halt, weiss denn heute noch jemand was „Blitzer“ waren? Blitzer waren Anfang der 70er Jahre immer mal wieder in den Schlagzeilen, weil sie an irgendeinem öffentlichen Ort oder bei irgendeinem Ereignis kurz nackt durch die Szenerie rannten und dann auch wieder verschwunden waren. Sagen wir die Queen nimmt die Parade ab, Blitzer rennt nackt durch die Parade, ab in die nächste Gasse und nie wieder gesehen. Am nächsten Tag dann Schlagzeile in der Bild oder ein Artikel in der Quick. 15 Minuten Ruhm, ein nackter öffentlicher Arsch war damals noch was.
OK, P. und ich also, betrunken und übermütig und voll der Bewunderung für blitzende Ärsche beschließen eines lauen Sommerabends unseren Beitrag zum allgemeinen Sittenverfall zu leisten. Die Queen war gerade nicht da und weil wir auch auf andere Gelegenheiten nicht warten wollten, beschlossen wir …, naja, beschlossen haben wir vermutlich gar nicht, auch nicht größer nachgedacht, also wir hielten es in diesem Moment für eine gute Idee, auf unseren Motorrädern mal eine Runde durchs Vorstädtchen zu fahren, nackt. Das haben wir dann auch getan, entlang der noch belebten Hauptstraßen und am Polizeirevier vorbei, die Nummernschilder mit verknoteten Taschentüchern verdeckt. Das war notwendig um gesehen zu werden, wie sollte sich den sonst unser Ruhm verbreiten, und um das rechte Mass an Uns-doch-egal-Attitude nicht nur den Sitten, sondern auch der Staatsgewalt gegenüber, zu beweisen. Wie angekündigt, keine Pointe, alles ging gut, Freund A. hatte uns gesehen, erkannt und verbreitete unaufgefordert unsere Großtat, die Clique schwankte zwischen Kopfschütteln und Bewunderung, 2 Tage lang waren wir Helden. Ende.
Tante Leni stirbt
Tante Leni ist streng genommen meine Großtante, die Schwester meiner Oma Johanna, die ich aus anderen Gründen ebenso mochte. Sie stirbt einen Tag vor meinem 14. Geburtstag, der dann wenig überraschend kaum gefeiert wurde. Nicht schlimm, ich glaube schon damals hatte ich es nicht so mit Geburtstagen. Interessant für mich ist daran nur, dass es wirklich der 14. Geburtstag war. Geschätzt hätte ich den zwölften, vielleicht den elften oder dreizehnten, aber niemals den vierzehnten. Gefühlt war ich so viel jünger.
Tante Leni wohnte direkt im Nachbarhaus, bessergesagt im direkt benachbarten Hauseingang, denn meine Familie und sie wohnten in demselben Wohnblock. Um die Zeit ihres Todes herum bin ich ziemlich regelmässig zu ihr „rübergegangen“, mal aus Langeweile, mal um sie auf den Wochenmarkt zu begleiten. Ob ich dabei wirklich eine große Hilfe beim Tragen war, weiß ich nicht mehr. Gut erinnern kann ich mich aber daran, dass wir auf dem Weg zum Wochenmarkt regelmässig zu irgendwelchen Schwätzchen stehenblieben, denn Tante Leni war mit vielen Menschen bekannt und bei einigen auch gern gesehen. Sie war – und damals hat mich das nur wenig interessiert – zu Zeiten ihrer Berufstätigkeit irgendwas in der Verwaltung eben jener Wohnungsbaugesellschaft, in deren Häusern wir nun wohnten. Sie hatte also über ihren Job Kontakt zu vielen Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung gehabt und so konnte sich ein Marktgang schon einmal hinziehen. Der Weg zum Höchster Wochenmarkt dauerte auch ohne Unterbrechung cirka zwanzig Minuten, mit Unterbrechungen dann eine dreiviertel Stunde, zurück ähnlich. Um nicht mißverstanden zu werden, ich beschwere mich nicht darüber, schließlich ging ich gerne und freiwillig mit. Und vermutlich war das auch längst nicht so regelmässig, wie ich es erinnere, sondern eher eine Sache, die nur in den Ferien vorkam.
Irgendjemand muss mir erzählt haben, sie sei eine recht lebenslustige Frau gewesen, denn das ist es, was mir einfällt, wenn ich sie beschreiben sollte. Aber, und ich finde, das ist ein großes Aber, mir fällt keine Begebenheit ein, in der ich als Kind einen solchen Eindruck hätte gewinnen können. Oder was ich zu einem solch frühen Zeitpunkt mit „lebenslustig“ hätte verbinden können, selbst wenn man davon absieht, dass „lebenslustig“ in der damaligen moralinsauren Zeit auch ein paar schwierige Konotationen hatte.
[Erinnerungen an ihre Wohnung in der Palleskestraße, manuelle Klingel an der Tür, Toilette im Treppenhaus, Pisspott, Rollläden und wandernde Scheinwerfer auf den Wänden]
Noch unsortiert:
Geboren am 15.4.1898, sie ist eine geborene Scholly, nannte sich aber teilweise Eckert oder Scholly-Eckert, Scholly ist der erste Mann ihrer Mutter Katharina, Eckert der Name des zweiten und dritten Ehemans (Brüder), das klingt nach einer interessanten Geschichte, die ich leider nie erzählt bekam. Der dritte Ehemann Eckert hat die Hausapotheke gemacht. Weitere Ebstücke: der handgeschniedete Dosenöffner, der Ausgehdegen (von einem der Eckert-Brüder) und die Vitrine (mit einem jahrzehntelangen Umweg über den elterlichen Garten)